Fiston Mwanza Mujila bringt mit der Oper „Justice“ postkoloniale Realitäten nach St. Pölten. Ein Interview vor der Tangente-Eröffnung.
Interview: Hanna Begić und Carlotta Partzsch
Knapp eine Woche vor der Österreich-Premiere der Oper „Justice“ treffen wir Fiston Mwanza Mujila für ein ausführliches Gespräch. Der in Graz lebende Schriftsteller mit kongolesischen Wurzeln hat gemeinsam mit Milo Rau das Libretto von „Justice“ geschrieben. Die Oper ist ein Requiem für die Opfer eines Säureunfalls im Kongo im Jahr 2019. Zum ersten Mal erhoben die Überlebenden ihre Stimmen auf der Bühne des Genfer Opernhauses, darunter die Sopranistin Axelle Fanyo als „Mutter des toten Kindes“. Jetzt geht die Reise für „Justice“ im Rahmen des Tangente Festivals in St. Pölten weiter. Wir haben mit Fiston Mwanza Mujila über den Kupferabbau im Kongo, postkoloniale Verhältnisse und die Entstehung der Oper gesprochen.
KREDO: Sie haben in verschiedenen Ländern gelebt, darunter Belgien, Deutschland, Frankreich und Österreich. Wie haben diese unterschiedlichen kulturellen Umgebungen Ihr Schreiben beeinflusst?
Fiston Mwanza Mujila: Ich bin im Kongo geboren und habe dort gelebt, bis ich 25 oder 26 Jahre alt war. Ich bin darum tief geprägt von der kongolesischen Kultur, Musik, Literatur und auch von der afrikanischen Kultur. Dann bin ich nach Europa gekommen und habe jetzt den Eindruck, zwei Leben gelebt zu haben. Ich bin wie zweimal geboren – einmal im Kongo und einmal im deutschsprachigen Raum. Im Kongo habe ich schon frankophone Literatur gelesen und war so schon mit der französischen Kultur verbunden. Aber im deutschsprachigen Raum ist alles anders. Ich musste bei null anfangen, auch als Schriftsteller. Das heißt auch, in einer neuen Sprache zu arbeiten und zu lesen. Es war wirklich interessant, eine neue Genealogie als Schriftsteller aufzubauen. Und in dieser Genealogie sind Schriftsteller wie Ingeborg Bachmann, Peter Handke oder Siegfried Lenz. Diese Literaturen haben mich sehr beeinflusst. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass Identität auch transnational sein kann.
Ihre Texte werden in verschiedenen Ländern inszeniert und gelesen. Gibt es Unterschiede im Publikumsverständnis und in der Rezeption Ihrer Arbeit je nach kulturellem Kontext?
Ja, ich glaube schon. Wenn ich beispielsweise in Belgien lese, ist die Stimmung ganz anders als anderswo. Der Kongo war eine belgische Kolonie. Das heißt, es gibt eine lange Geschichte des Blutes, der Gewalt und der Deportation. Für die Minenarbeit wurden Menschen von den belgischen Machthabern deportiert. Die gewaltvolle Beziehung zwischen Belgien und dem Kongo ist auch heute sehr präsent und mit vielen Fragen nach Verantwortlichkeit und Schuld verbunden. Gleichzeitig fühle ich mich, wenn ich in Deutschland unterwegs bin, mehr als österreichischer oder Grazer Schriftsteller als als kongolesischer Schriftsteller. Einerseits, weil ich von der Grazer Literaturszene geprägt bin, andererseits aber auch, weil ich von österreichischen Botschaften als österreichischer Autor eingeladen werde.
Die Oper „Justice“ basiert auf einem tragischen Ereignis in Katanga im Jahr 2019. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und wie haben Sie sich darauf vorbereitet, das Libretto zu schreiben?
Dieses Thema begleitet mich schon seit der Kindheit und ist ein zentraler Inhalt meiner Arbeit. In der Kolonialzeit haben die Belgier in Katanga, wo ich herkomme, Kupfer entdeckt und entschieden, dort eine große Firma zu bauen. Sie haben überall in Afrika junge Männer gesucht, um in den Minen zu arbeiten. Auch viele meiner Familienangehörigen waren in den Minen oder im Umfeld der Minen tätig. Ich bin in Lubumbashi aufgewachsen, dort hat alles mit Kupfer zu tun. In so einer Region leben 80 bis 90 Prozent der Menschen von der Minenarbeit. Das hat mein ganzes Leben, meine ganze Kindheit geprägt. Deshalb schreibe ich seit Jahren darüber. Meine Perspektive ist spezifisch, weil ich Menschen kenne, die direkt betroffen sind und weil ich mit der Thematik aufgewachsen bin. Trotzdem bin ich jetzt hier in Österreich, und es ist eine Herausforderung, eine Sprache zu finden, die authentisch ist. Es geht um mehr als Literatur und Kunst, ich möchte den Betroffenen eine Stimme geben. Dieser Unfall, der in der Oper behandelt wird, ist nur eine von vielen Beispielen. Von Unfällen, Erdrutschen, Zerstörung und Luftverschmutzung, die durch den Mineralienabbau entstehen. Im Kongo sind auch heute viele große Unternehmen. Die Arbeiter*innen sind sehr schlecht bezahlt und haben keine richtige Ausrüstung. Was dort passiert, ist mehr als Ausbeutung. Für mich ist das moderner Kolonialismus.
Wie war Ihre Zusammenarbeit mit dem Regisseur Milo Rau und dem Komponisten Hèctor Parra bei der Entstehung von „Justice“?
Also, Milo hatte eine grobe Idee, als er mich in das Projekt einbezogen hat. Für mich war es wichtig, alles zu dem Vorfall zu lesen. Es gab auch schon einen Gerichtsprozess, und ich las alle Unterlagen, um die erste Fassung des Librettos zu schreiben. Später begannen Hèctor Parra und ich eng zusammenzuarbeiten. Er war damals noch nie im Kongo gewesen, und für uns war es wichtig, eine musikalische Reise durch den Kongo zu unternehmen, um die authentischen Klänge und Geschichten zu erfassen, die hinter jedem Musikstück stehen. Und dann, drei bis vier Monate vor der Premiere, machten Milo, Hèctor, Serge Kakudji und ein Teil des Teams eine Reise in den Kongo. Wir haben sehr eng zusammengearbeitet, um verschiedene Stimmen in der Oper zu vereinen.
Welche Rolle spielt Kunst und insbesondere Oper bei der Sensibilisierung für gesellschaftliche Probleme?
Für mich ist es von größter Bedeutung, die Stimmen der Opfer und Betroffenen hier in Europa hörbar zu machen. Im Kongo wurden sie oft überhört, und es gab auch keinen richtigen Prozess. Daher ist es mir ein Anliegen, diese individuellen Geschichten hier zu erzählen. Die Oper als Kunstform bietet dafür eine unkonventionelle Möglichkeit, der Text erzählt Geschichten, die Musik erzählt Geschichten, die Bühne erzählt Geschichten, und die Schauspieler*innen erzählen Geschichten. Ich glaube, das Publikum wird durch die Oper sensibilisiert werden, auch durch Einfachheit, wie das Zeigen von Bildern vom Unfall. So wird alles sehr real, vielleicht ist das Leben auch selbst wie eine Oper, denn wir leben in einer großen Tragödie.
„Justice” eröffnet nun die Tangente St. Pölten. Das Bundesland Niederösterreich hat seit etwa einem Jahr eine schwarz-blaue Landesregierung. Wie stehen Sie zu der Ambivalenz, dass die Tangente Schwerpunkte zu Ökologie, Erinnerung und Demokratie setzt, aber gleichzeitig Politiker*innen beispielsweise zur Eröffnung einlädt, die sich öffentlich gegen emanzipatorische Ideen äußern?
Ich empfinde eine tiefe Zerrissenheit. Aufgewachsen in einer Diktatur und mit Eltern, die die Kolonialzeit im Kongo erlebt haben, spüre ich die Komplexität dieser Thematik sehr stark. Als Künstler und Literat sehe ich meine Position darin, durch meine Arbeit zu sprechen. Europa ist stark von kolonialen Strukturen geprägt, und ich zögere, mich zu lokalen politischen Fragen zu äußern. Die Geschichte Europas ist gezeichnet von Blutvergießen, Kolonialisierung und moderner Ausbeutung. Europa ist nicht nur schöne Gebäude. Diese Realität ist für mich als Schwarzer Künstler mit kongolesischen Wurzeln allgegenwärtig.