Interviews

„Abschreckende Fabeln sollen immer in der Ferne spielen“

Amir Reza Koohestani, Regisseur von „Maria Stuart“ am St. Pöltner Landestheater, spricht im Interview über den Domino-Effekt der Gewalt, über den voreingenommenen Blick des europäischen Publikums und darüber, was Shakespeares Stück mit der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung im Iran zu tun hat.

Interview: Mahsa Ehsani

Herr Koohestani, ich möchte zu Beginn über Mahin Sadri sprechen. Sie hat die Neufassung von „Maria Stuart“ geschrieben, die nun von Ihnen am Landestheater Niederösterreich inszeniert wurde. Was macht sie und ihre Art, mit „Klassikern“ umzugehen, so besonders? 

Unsere ästhetischen Vorstellungen ähneln sich stark, doch bei den inhaltlichen Ansätzen unterscheiden wir uns umso mehr. Mahin hilft mir immer, ein Thema aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Insbesondere dann, wenn die Hauptrollen unserer Stücke weiblich sind, wie es etwa bei „Maria Stuart“ der Fall ist. Als Mann empfinde ich ihre Expertise als unschätzbar wertvoll, denn wir Männer neigen dazu, weibliche Charaktere mit männlichen Attributen zu versehen, wenn wir starke Frauen darstellen wollen. Außerdem vertritt sie die Meinung, dass wir die Schwachpunkte einer Figur nicht als charakterliche Schwächen sehen sollten, sondern als Platzhalter für mehr Menschsein und Menschlichkeit. Sie ist immer diejenige, die eine Alternative schafft. 

Wie sieht dieser alternative Zugang bei „Maria Stuart“ aus?

Porträt von Mahin Sadri
Die Autorin Mahin Sadri arbeitet seit Jahren mit Amir Reza Koohestani zusammen. Sie schrieb auch die Neufassung von „Maria Stuart“, die im Landestheater Niederösterreich aufgeführt wird. (Foto: Shahin Azma)

Auf den ersten Blick scheinen Elizabeth und Maria grundverschieden zu sein. Da ist auf der einen Seite die Königin Schottlands, die sehr selbstbewusst, attraktiv und massentauglich ist. Auf der anderen Seite haben wir die Königin Englands, die über eine Menge Macht verfügt, aber gleichzeitig sehr verunsichert ist und sich über die Konsequenzen jeder einzelnen Entscheidung den Kopf zerbricht. Und um das Bild einer willensstarken, selbstsicheren Herrscherin aufrechtzuerhalten, trifft sie manchmal Entscheidungen, von denen sie weiß, dass sie nicht die besten Konsequenzen haben werden.

Aber bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass diese zwei Frauen eigentlich viele Überschneidungen haben. Mahin hat es geschafft diese Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Ihre Adaption hat mir das weitere Bearbeiten dieses Stückes auf vielen Ebenen erleichtert.

Manche Theaterkritiker*innen (etwa hier) haben genau diese Gegenüberstellung zweier rivalisierender Frauen in Ihrer Inszenierung vermisst. Das Stück hätte dadurch seinen Knackpunkt verloren. Was würden Sie ihnen antworten?

Das Problem ist: Menschen denken sich – nicht nur bei diesem Stück, sondern generell im Leben –, sie wären bei einem Fußballspiel und müssten sich für eine Seite entscheiden. Die Tendenz, nur in Schwarz oder Weiß zu denken, ist sehr vorherrschend. Je mehr wir dazu neigen, uns eine Dualität – als Duell – vorzustellen, desto mehr entfernen wir uns von der Möglichkeit, das wahre Wesen der Gewalt zu analysieren. Diese Neigung entspringt einer gewissen Bequemlichkeit. Bei jeder kleinen Angelegenheit will man sofort erfahren, wer nun der Böse und wer der Gute ist. Dadurch gerät die Komplexität der Sache in den Hintergrund.

Bei „Maria Stuart“ sieht es in vielen Köpfen wie folgt aus: Eine arme, naive, schutzbedürftige Gefangene, also Maria, steht einer bösen, machtsüchtigen Herrscherin, also Elizabeth, gegenüber. Doch war es nicht gerade diese Gefangene, die Briefkontakte zu Englands rivalisierenden Herrscherhäusern in Frankreich, Spanien und Österreich hatte? Elizabeth musste durchaus befürchten, dass sich ihre Feinde mobilisieren könnten. Und am Ende des Tages geht es mir auf der Theaterbühne ja nicht um ein Hunderte Jahre zurückliegendes historisches Ereignis. Was ich heute wichtig finde, ist, welche Narrative wir weitergeben. Wir sollten ein Verständnis für beide Seiten entwickeln. Wir sollten sehen, dass es hier um zwei einander ähnliche Positionen geht, die um Macht und Einfluss ringen.

Zwei Schauspieler:innen auf einer Theaterbühne
Szene aus „Maria Stuart“ am Landestheater Niederösterreich: Julia Kreusch als die Titelheldin in Gefangenschaft, hier mit Lukhanyo Bele als Mortimer. (Foto: Franzi Kreis)

Auf einer einsamen Insel bist du nicht frei. Da bist du nur einsam.

Was wir aus dem Stück lernen könnten, wäre also: In keinem Konflikt gibt es eine rein gute und eine rein böse Seite – es tragen immer beide Seiten auf ihre Art Verantwortung.

Ich möchte auf den Domino-Effekt der Gewalt hinweisen. Jede Form der Gewalt oder der Unterdrückung führt zur Reproduktion dieser Gewalt in neuer Form. Die Welt scheint das entweder wissentlich nicht einsehen zu wollen oder unbewusst weiterzutragen. Es ist die natürliche Dynamik einer nicht enden wollenden Gewalt. Wie wir es auch heute beispielsweise in Palästina mitverfolgen können. Wer das Gute und das Böse fein säuberlich getrennt haben möchte, der will das, damit er sich sodann auf die Seite des Guten stellen und sich die vorverpackte Erlösung erkaufen kann. Unsere Art der Darstellung der beiden Charaktere als nur scheinbar gegensätzliche erlaubt es außerdem, auch die Verletzlichkeit und Armseligkeit der vermeintlich bösen Seite zu erforschen. Letztendlich war es unsere Intention, diesen nie endenden Zyklus der Gewalt aufzuzeigen und auf die Gefahr des binären Denkens aufmerksam zu machen. 

Porträt von Amir Reza Koohestani
Der Regisseur und Dramatiker Amir Reza Koohestani erarbeitet seit 25 Jahren Theaterstücke mit der Mehr Theatre Group im Iran. (Foto: Bea Borgers)

Immer wieder überrascht mich die belehrende Haltung der deutschen Theaterkritik.

Aber letzten Endes wird Maria durch Elizabeths Entscheidung hingerichtet. Wir sind uns heute einig, dass nichts und niemand die Tötung eines anderen Menschen rechtfertigen kann. Wie möchten Sie das erklären?

Natürlich sind sich alle Menschen theoretisch darüber einig. Aber in der Realität sieht das leider anders aus. Ich möchte wieder auf die aktuelle Situation im Nahen Osten verweisen. Heute [15.10.2024, Anm. d. Red.] habe ich in den Nachrichten gelesen, wie die deutsche Außenministerin die Bombardierung eines Schulgebäudes in Gaza mit der Begründung befürwortet hat, Israel hätte dadurch auch Terroristen getroffen. Für jede Gräueltat lässt sich eine Rechtfertigung finden.

In Europa verspüre ich einen breiten Grundkonsens, dass die Todesstrafe abzulehnen ist, den ich auch unterstütze. Berechtigterweise gilt dieser Grundsatz auch – zugespitzt ausgedrückt – für einen Serienkiller. Aber im Kontext des Kriegs scheint diese Einstellung, dass jedes einzelne Leben schützenswert sei, keine Rolle zu spielen. Diese Tatsache finde ich sehr besorgniserregend. Bei „Maria Stuart“ habe ich versucht genau diese Dynamik aufzuzeigen. 

In einer Ankündigung zu Ihrer „Maria Stuart“-Inszenierung habe ich gelesen, sie sei auch ein Kommentar zur „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung im Iran. So ganz habe ich den Verweis nicht entdeckt, muss ich zugeben. Wo war er?

Zuerst einmal möchte ich etwas zugeben: Wenn ich heute nochmal entscheiden könnte, ob ich Parallelen zwischen meinem Stück und dieser politischen Bewegung ziehen möchte, würde ich lieber darauf verzichten.

Wieso denn?

Das Problem ist die Erwartungshaltung des Publikums. Nach so einer Ankündigung erwarten sich viele Menschen dann, dass auf der Bühne wohl eine hilflose, weinende Frau von einem vollbärtigen Mann attackiert wird, also dass typische Bilder bestätigt werden. Aber der Grundsatz der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung besagt ja, zumindest aus meiner Sicht: Auch du als Mann kannst nicht frei sein, solange deinen Mitbürgerinnen, Kolleginnen, Freundinnen die Freiheit genommen wird. „Frau, Leben, Freiheit“ hat mich gelehrt, dass Freiheit eine kollektive Idee ist. Also wenn man sich auf eine einsame Insel begibt und dann behauptet,  man wäre jetzt frei, stimmt das schlichtweg nicht. Da bist du nicht frei, du bist nur einsam. Eine Voraussetzung der Freiheit ist, dass man mit anderen in Interaktion steht und sich in einer Gemeinschaft befindet. 

Im Kontext von „Maria Stuart“ ist es auch nicht anders. Es gibt die Adeligen, die Elizabeth als Berater umgeben und genau wissen, dass gerade Unrecht geschieht. Und trotzdem verlieren sie kein Wort darüber – zum Schutz ihrer Positionen und Privilegien. Ich selbst habe heute auch etwa diese Position. Ich bin nicht direkt von unterdrückenden Gesetzen betroffen, sondern bin im Vergleich zu Frauen privilegiert. Das ist mir bewusst, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit dem Iran. Dort wollen meine Kolleginnen kein Kopftuch tragen, müssen es aber. In Frankreich beispielsweise wollen viele Frauen Kopftuch tragen, dürfen es aber nicht. Beiden wird das Gegenteil ihrer eigenen Entscheidung auferlegt. Wenn ich diese Unterdrückung erkenne, ist es meine Aufgabe als privilegierter Regisseur, diese Gleichzeitigkeit der Ungerechtigkeit in meiner Arbeit aufzugreifen. 

Die besten Shakespeare-Adaptionen der Welt sind längst Werke von nicht-englischsprachigen Künstler*innen.

Haben Sie selbst während Ihrer zehn Jahre in der europäischen Theaterbranche jemals Rassismus oder Diskriminierung erfahren? 

Ja, und zwar nicht nur von Kolleg*innen und Theaterdirektor*innen, sondern auch von Kritiker*innen und vom Publikum. Das ist besonders in Deutschland der Fall. Immer wieder überraschend für mich persönlich ist diese belehrende Haltung vieler deutscher Kritiker*innen, die aus der Vorstellung kommt, ich käme ursprünglich aus einem Land, in dem es ja diese besondere Theaterkultur gar nicht gäbe. Diese Leute scheinen zwei Dinge zu ignorieren: Erstens, dass ich nun schon seit mehr als 20 Jahren in dieser Branche arbeite. Und zweitens, dass die besten Shakespeare-Adaptionen der Welt längst Werke nicht-englischsprachiger Künstler*innen sind.

Spielen hier auch orientalistische Klischees hinein, wenn Ihre Stücke rezipiert werden?

Sicherlich, und es erschwert meine Arbeit. Ich nehme ein Gefühl der Überlegenheit unter deutschen Theaterkritiker*innen wahr, das unerschütterlich ist. Wenn ihnen gefällt, was ich mache, dann habe ich es während meiner zehn Jahre in Europa gut beigebracht bekommen. Wenn es ihnen nicht gefällt, dann haben sich die europäischen Lehrmeister*innen zumindest bemüht, aber halt vergeblich. Woran es gemangelt hat, war dann mein Talent.

Ich nehme auch wahr, dass viele Zuschauer*innen mit einer voreingenommenen Haltung in den Saal kommen, gegen die nicht anzukommen ist. Wenn ich gewisse exotistische Erwartungen erfülle, dann schnaufen sie, sie hätten ja gewusst, dass sich das so abspielen wird. Werden ihre Erwartungen nicht erfüllt, sind sie erst recht enttäuscht und denken, ich hätte den jeweiligen europäischen Klassiker „nicht verstanden“. Bei „Maria Stuart“, zum Beispiel, fragte mich eine Zuschauerin, ob Elizabeth Putin repräsentieren sollte. Wenn ich das vorgehabt hätte, dann hätte ich sie „Putin“ genannt und nicht „Elizabeth“!

Die Menschen im Allgemeinen und die Europäer*innen im Besonderen verorten Diktaturen und korrupte Systeme immer ganz weit weg, als abschreckende Fabeln, die in fernen Ländern spielen. Aber die Realität, in der wir uns gerade befinden, zeigt uns doch etwas ganz anderes. Genau diesen Denkfehler versuche ich in meiner Arbeit nicht zu reproduzieren. Ich möchte, dass die Person, die jetzt gerade im Saal sitzt, sich selbst und ihre Umgebung auf die vorgeführten Irrtümer hin untersucht. Der Finger wird auf die Anwesenden gerichtet.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch!

Weiterlesen:
Königinnen in der Krise – eine „Maria Stuart“-Kritik von Carlotta Partzsch

Spieltermine von „Maria Stuart“ am Landestheater Niederösterreich:
7. Dezember 2024, 16 Uhr
10. Januar 2025, 19:30 Uhr

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