Interviews

„Die Oper darf sich aufspielen“

Ist Milo Rau der Retter der Welt? Mit der Oper „Justice“ wird es – wie so oft bei den Werken des Regisseurs – hoch politisch. Wir trafen den Schweizer im Festspielhaus St. Pölten zum Gespräch.

Interview: Felicia Schätzer und Alara Yılmaz

Milo Raus Oper „Justice“ handelt von einer Umweltkatastrophe im Kongo. Ein mit Schwefelsäure beladener Laster kommt auf einem Marktplatz ins Schleudern. Resultat: 21 Menschen werden tödlich verätzt, weitere erleiden schwere Verwundungen, giftige Säure gelangt nach einem starken Regenguss auf landwirtschaftlich genutzte Felder der Umgebung. Man fragt sich, was dieser Laster dort überhaupt zu suchen hatte, und die Antwort darauf wurzelt in globalen Machtmissbräuchen, deren kapitalistische Ursprünge in Mitteleuropa liegen : Mit Schwefelsäure kann Kobalt verarbeitet werden, zum Beispiel für Akkus von Smartphones. Und Kobalt wird großflächig im Kongo abgebaut, etwa von Schweizer Firmen. Das ist die Geschichte von „Justice“, die von Milo Rau in Zusammenarbeit mit Fiston Mwanza Mujila und Hèctor Parra erarbeitet wurde – und die Anfang des Jahres im Grand Théâtre in Genf uraufgeführt wurde.

Es handelt sich um einen Fall von tausenden. Einen, über den man in Mitteleuropa höchstens als kleine Notiz in der Zeitung liest. Rau, Mujila und Parra haben sich allerdings dazu entschieden, solch ein „kleines“ Schicksal groß zu machen. Wie der Regisseur bei der Stückeinführung betont, spiegelt sich laut dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu nämlich genau daraus die Welt. Der Begriff „Justice“, also Gerechtigkeit, soll dabei als Handlungsaufforderung betrachtet werden, und Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang hochpolitisch.

Dass Milo Rau ein einflussreicher Theatermacher ist, wird klar, wenn man sich die Homepage der Wiener Festwochen ansieht. Kritiker*innen bezeichnen ihn als den „einflussreichsten“ (Die Zeit), „meistausgezeichneten“ (Le Soir), „interessantesten“ (De Standaard), „umstrittensten“ (La Repubblica), „skandalösesten“ (New York Times) oder „ambitioniertesten“ (The Guardian) Künstler unserer Zeit. Immer wieder kommt es bei seinen Produktionen allerdings zu Diskussionen über „Geschmacklosigkeit“. Beispielsweise 2016, als er mit einem ausschließlich von Minderjährigen gespielten Theaterstück über den belgischen Kindermörder Marc Dutroux für Aufsehen sorgte. Ein ähnliches Beispiel stellt das ein Jahr später am Zürcher Schauspielhaus aufgeführte Stück „Die 120 Tage von Sodom“ dar, das mit Mitgliedern des inklusiven Theaterkollektivs Hora erarbeitet wurde. Schauspielende mit Down-Syndrom werden bei der Inszenierung auf der Bühne angekettet, simulieren Orgien und „essen“ unsichtbare Exkremente. Fragen zu Vulgaritäten wurden auch hier zur Genüge geboten und führten zu starken Kontroversen über Milo Raus Werk.

In der Rezeption von „Justice“ fallen solche Zwiespältigkeiten aus. Die Kritiken zum Stück sind recht eindeutig ausgefallen – eindeutig positiv. Dass hier von einem wichtigen Thema berichtet wird, besprechen auch Alara und ich, während wir auf Milo Rau im Foyer des Festspielhauses St. Pöltens warten. Zu unserem Interview kurz vor der zweiten und letzten Aufführung von Justice im Festspielhaus kommt er gestresst und zu spät. Wenngleich Rau uns freundlich und auf Augenhöhe begegnet, bleiben einige unserer Fragen aufgrund des entstandenen Zeitmangels ungestellt. Beispielsweise, weshalb ausgerechnet Österreich für ihn zurzeit so interessant ist. Stattdessen erklärt Rau uns wie aus der Pistole geschossen andere Dinge, die uns interessieren. Zum Beispiel, warum genau die Oper ein fähiger Ort für globale politische Erzählungen sein kann und weshalb die Tangente dafür geeignet ist.

KREDO: Warum ist es wichtig, „Justice“ auf der Tangente zu spielen?
Milo Rau: Zum einen ist die Tangente eine Möglichkeit, die Oper in den deutschsprachigen Raum zu bringen. Sie ist ja bislang nur im französischsprachigen Raum gelaufen, und ich denke, dass die Situation im Kongo hier unbekannter ist. Gleichzeitig war St. Pölten ja auch ein bekannter Industriestandort, wo auch Säure hergestellt wurde – und genau darum geht es ja. Zugleich ist die Tangente ein Festival, das versucht, auf Fragen der Nachhaltigkeit und Ökologie einzugehen. Wie hängen Gesellschaft und Kunst zusammen? Das sind Fragen, die in dieser Oper wichtig sind.

Welchen Bezug hat „Justice“ zu einem mitteleuropäischen Publikum?
Die Welt ist im Grunde eine globale, unsere Realität ist eine globale. Die Armut im Kongo trägt eine zweite Wahrheit in sich, denn der Kongo ist ja eigentlich die reichste Nation an Bodenschätzen, und dieser macht gleichzeitig den Reichtum von Mitteleuropa aus. Die großen Firmen kommen aus Europa und sind in diesen Regionen eigentlich nur als Ausbeutende vorhanden. Wir wollen diese Richtung der Weltwirtschaft umdrehen und sagen: Es muss eine solidarische Globalisierung geben. Eine Globalisierung der Zivilgesellschaft. Deshalb arbeiten wir seit zehn Jahren mit Anwälten zusammen und haben uns entschlossen, diese Oper zu machen. Mit der Spendenkampagne konnten wir schon fast 20.000 Euro für die Betroffenen im Kongo sammeln.

Ihre Arbeit wird oft als politisch bezeichnet. Die einen loben das, die anderen kritisieren, dass Sie sich als „Retter der Welt“ aufspielen. Sehen Sie Theater und Oper per se als politische Orte?
Ja! Ich sehe Theater und Oper auch als sich aufspielenden Ort der großen Gesten und der Darstellung der Welt im Kleinen. Wie kann man sich denn beispielsweise herausnehmen, Jesus Christus zu malen? Es gibt Traditionen, wo Übertreibung als schlecht angesehen wird, aber ich denke, wir in Europa, aber auch in Lateinamerika und Afrika, sind Kulturen der Vergrößerung. Wir versuchen, etwas auf der Bühne zu machen, das vielleicht in der Welt fehlt. Mir ist es wichtig, eine Utopie zu schaffen, einen Ort, an dem etwas passieren kann, das in der wirklichen Welt nicht vorgesehen ist.

„Justice“ bei der Uraufführung in Genf
Bild: Tangente St. Pölten © Carole Parodi

Warum Oper? Warum nicht Theater, warum nicht Lesung?
Das finde ich auch erst langsam heraus. Ich glaube, dass die Oper viel diverser ist als das Theater. Das Theater in Europa wird dominiert von der weißen Mittelklasse, die Oper ist im Vergleich sehr globalisiert. In der Oper zählt Talent: Die Sängerinnen und Sänger, die man im Opernhaus findet, kommen von überall her. In einer anderen Operninszenierung hatte ich die Tochter einer Putzfrau aus Sankt Petersburg auf der Bühne neben jemandem aus der Bronx. Die hatten Talent, während ich, als jemand aus dem europäischen Mittelstand, nie wirklich Talent haben musste, um Kunst zu machen. Da ist die Oper ein Sammelbecken.

Gleichzeitig steht die Oper in einem sehr starken, direkten Kontakt zur Elite. Dass wir jetzt so viel Geld zusammen brachten, hängt natürlich damit zusammen, dass im Publikum Aktionärinnen und Aktionäre sitzen, die mit dem Ursprung ihres Reichtums konfrontiert werden. Das sind weder dumme noch amoralische Menschen, aber sie sind vielleicht nicht informiert, und das ist sehr effektiv für die Spendeneinnahmen.

Die Tangente wird ja co-finanziert durch das Land Niederösterreich, in der momentan auch die FPÖ in einer Regierungskoalition sitzt. Wie gehen Sie damit um, dass Ihrer Produktion ausgerechnet in so einem politischen Umfeld ihre Österreich-Premiere ermöglicht wird?
Das sind schließlich die Steuergelder der Bürgerinnen und Bürger. Ich denke, zivilgesellschaftlich ist jeder Euro, der in Kultur fließt, gut, bevor er in idiotische, vielleicht rechtsradikale Ausgaben geht.

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