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Ein letzter lauter Frühling

Zwischen Klimakatastrophe und Amselgezwitscher stellt man im ersten Moment keine direkte Verbindung her. Warum der Frühling dennoch möglichst laut sein sollte, erfahren wir am 1. Mai beim „Katalog der Vögel“, einer musikalischen Lesung in drei Abschnitten. 

Reportage: Carlotta Partzsch und Felicia Schätzer

Amselgesang ist den meisten Menschen vertraut. Er markiert die Morgendämmerung oder den Beginn des Frühlings. Denn im Februar und März zählen die Schwarzdrosseln zu den ersten hörbaren Singvögeln des Jahres. Besonders interessant an ihnen ist, dass sie im Vergleich zu Kuckuck oder Zilpzalp nicht nur ein sich ständig wiederholendes Motiv kennen – die Amsel ist in der Kombination ihrer Melodien kreativ. Nicht überraschend also, dass auch Musiker*innen wie Olivier Messiaen sie als Inspiration für ihre Arbeit bezeichnet haben.

Wir sitzen im Festspielhaus St. Pölten. Die Institution ist präsent und die Stühle sind ordentlich gereiht. Auf der Bühne erinnert eine an die Wand projizierte Lichtszenerie an Sonnenaufgänge. 45 Minuten lang gibt es einen Wechsel zwischen dem Klavierspiel des Pianisten Pierre-Laurent Aimard und Texten von Vinciane Despret und Fiston Mwanza Mujila – gelesen von Birgit Minichmayr. Zusammengefasst handelt es sich laut Programmeinführung um ein „ornithologisches Gipfeltreffen der besonderen Art“.

Silbermöwen, Blaumerlen, Mäusebussarde – Messiaen widmet sich in seinem 13-teiligen Zyklusprojekt „Catalogue des oiseaux“ 77 Vogelarten aus unterschiedlichen Regionen Frankreichs. Weil der Katalog bereits in den 1970er Jahren entstand, kann man davon ausgehen, dass einige Populationen davon in der Zwischenzeit bereits stark minimiert wurden. Bei der Veranstaltung geht jeder Komposition eine Beschreibung der Vogellaute in Worten voraus. Beispielsweise wird „Der Schrei einer Eule, die wie aus einer anderen Welt klingt” mit tiefen, wilden, schnell wechselnden Tönen übersetzt. 

Im Laufe der Veranstaltung tauchen wir Zuhörer*innen tief in klangliche Transkriptionen von Vogelgeräuschen ein – wobei man nun bereits bei begrifflichen Definitionsfragen angekommen wäre: Handelt es sich tatsächlich um eine „Transkription“ von Zwitschern und Naturkulisse? Oder wird viel eher übersetzt? Interpretiert? Durch Inspiration Neues geschaffen? Falls es überhaupt möglich ist, die Geräusche der Natur nachzuahmen, fragt man sich: Wozu? Und alles in allem natürlich auch: Wie klingt Natur eigentlich?

Nach einer zehnminütigen Pause spazieren Publikum, Pianist, Schauspielerin und Notenbuchverantwortliche zur nächsten Station in die neu renovierte ehemalige Synagoge Sankt Pöltens. Alle machen Fotos vom schönen Innenraum. Wenngleich die Stimmung wesentlich entspannter ist als im Festspielhaus und die Synagoge eine gewaltige, lichtdurchflutete, offene Kulisse bereitet, ist es dieser mittlere 45-Minuten-Abschnitt, der irgendwie anstrengend ist. Möglicherweise liegt dies an den etwas komplexen Texten, die sich diesmal von den literarischen Naturbeobachtungen des vorherigen Teils wegbewegen und sich wesentlich härteren, politischeren Themen wie Territorialisierung, Einhegungen oder Ortserweiterungen zuwenden.

Zweiter Teil der Veranstaltung in der ehemaligen Synagoge © Carlotta Partzsch

In dieser Stimmung werden wir weitergeschickt zum dritten Teil der Veranstaltung im Hammerpark. Viele sitzen auf Liegestühlen oder Sesseln. An einer Bar bekommt man etwas zu trinken. Wir liegen in der Sonne. Minichmayr liest zunächst „Canary in a coalmine“. Der Kanarienvogel wurde in Minen traditionell als Messgerät für giftige Gase wie Kohlenmonoxid eingesetzt: Die kleinen, gelben Vögel reagieren diesbezüglich empfindlicher als menschliche Grubenarbeiter und kippen bereits etwas früher tot vornüber. In solch einem Todesfall hätten die Bergwerksleute dann noch genug Zeit, um zu fliehen oder sich Atemschutzmasken anzulegen. Die Kanarienvögel werden aufgrund ihrer Eigenschaft der Hochsensibilität im Anschluss mit Künstler:innen verglichen. 

1962 schreibt Rachel Carson in ihrem Buch „The Silent Spring“ über die große Bedeutung von Vogelgezwitscher, die einem erst dann verdeutlicht wird, wenn der Gesang nicht mehr zu hören ist. Also dann, wenn Vogelpopulationen bereits minimiert sind oder im schlimmsten Fall: ausgestorben. Der Text spricht in diesem Zusammenhang über „Tipping Points“. Damit sind Momente gemeint, in denen eine unaufhaltbare Kettenreaktion mit unvorhersehbaren Folgen ausgelöst wird. Kipppunkte im System Erde. Irreversible Veränderungen, die weitere nach sich ziehen. Abschmelzendes Grönlandeis, Anstieg des Meeresspiegels um sieben Meter, Umkippen des Amazonas, Auftauen von Permafrostböden, Absterben von Korallenriffen. 

Das Verstummen der Vögel kann von Fachkundigen als Warnung vor einer akuten realen Katastrophe angesehen werden. In diesem Sinne handelt es sich dabei also um das Gegenteil eines schrillenden Alarms. Und dieses ewige Schweigen über den Feldern, Sümpfen und Wäldern wird in „Katalog der Vögel“ als entsetzliches Szenario der Zukunft unserer Natur proklamiert. Das sitzt. Das emotionalisiert einen am Ende der knapp dreistündigen Veranstaltung erstmals. 

Nach dem Ende der musikalischen Lesung sitzen wir noch entspannt in der Wiese und blättern im kanarienvogelgelben Programmheft der Tangente. Als wir auf ein einleitendes Interview mit Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) stoßen, fragen wir uns, was sie, als Politikerin, eigentlich gegen das Artensterben, gegen die Biodiversitätskatastrophe tut? Wir googeln. In einem Standard-Interview vom 21. Dezember 2023 bezeichnet Mikl-Leitner Teilnehmende eines Klimaprotests als „Klimachaoten“ und fordert härtere Strafen für zivilen Ungehorsam. Die niederösterreichische Landeshauptfrau spricht sich ebenso gegen das EU-Renaturierungsgesetz aus. Artenvielfalt scheint ihr also kaum am Herzen zu liegen. Irgendwie finden wir es in einem positiven Sinne paradox, dass ihre Partei die Tangente, und damit auch diese Aufführung von „Katalog der Vögel“, fördert. 

Wir legen uns auf den Rücken und lassen das Piano in unserem Kopf noch ein wenig nachhallen. Über uns blühen die Kastanien und neben uns im Gras Gänseblümchen. Echte Vögel zwitschern noch, ohne Übersetzung.

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