Reportagen

Naturverhältnisse als Erlebnistheater

Ein minutiöses Protokoll einer siebenstündigen Kunsterfahrung bei „Shared Landscapes“ in Pyhra.

Text und Fotos: Carlotta Partzsch und Liese Schmidt

Shared Landscapes“ ist ein kulturelles Erlebnis in „Sieben Stücken zwischen Wald und Wiese“, konzipiert von Kuratorin Caroline Berneaud (Théatre Vidy-Lausanne) und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll). Wir waren die ganzen sieben Stunden zwischen den Wäldern und Wiesen Niederösterreichs dabei. Ein Protokoll des Tages.

Am Abend in St. Pölten trafen wir noch Schauspielerin Anna Rot auf ein Bier, deren Perspektive auf ihren Auftritt in Émilie Roussets theatraler Station, auf das Theaterspielen in der Natur und auf die Annäherung an eine Rolle durch ihre Sprache wir mitprotokollierten.

12:52 Uhr

Willkommen in Pyhra! Nach ca. 15 Minuten Fahrt vom Bahnhof Sankt Pölten spuckt uns der Shuttlebus an der landwirtschaftlichen Fachschule in Pyhra aus und wir erhalten erst eine kurze Einführung und dann unsere „rosa-orangenen“ Bändchen. Grüne und blaue Bändchen werden auch verteilt. Die Sonne scheint, die Stimmung ist gut. Bluetooth-Kopfhörer, Decken, Regenponchos, Lunch-Pakete und kleine Campinghocker werden verteilt.

Drei Arme mit orangen Bändchen ums Handgelenk

Anders als bei der Premiere am Freitag, bei der es in Strömen regnete und die Hälfte des Publikums in der Mitte des Programms abbrechen musste, erwischen wir bei der dritten Aufführung bestes Wetter. Anna Rot erzählt uns später von der Premiere: „Ich hätte nie gedacht, dass wir spielen. Es war einfach eine unfassbar gemeinsame Erfahrung von allen Menschen in dem Moment, egal ob du zuschaust oder spielst, oder Technik machst, oder das Festival leitest und dir Sorgen machst.“

13:08 Uhr
Auf einer WIese liegen eine Landkarte und ein Kopfhörer

Wir spazieren ein Stück, und dann geht es wirklich los. Die Kopfhörer werden aufgesetzt, und wir bewegen uns zu pulsierenden elektronischen Klängen in den Wald hinein. „Shared Landscapes“ sei nicht nur ein Naturstück, sondern auch ein Technik-Stück, sagt Anna Rot später und spekuliert, ob das eine menschliche Art sei, sich der Natur über Technik annähern zu wollen. Fest steht, dass es zumindest die Art Stefan Kaegis ist, oder vielmehr des Kollektivs Rimini Protokoll, das schon länger mit interaktiven Soundwalks arbeitet. Und tatsächlich ist „Shared Landscapes“ ein beeindruckend aufwändiges Technikerlebnis. Von einem großen Team an Guides geführt, werden die Sendestationen für die kabellosen Kopfhörer und Lautsprecher auf kleinen Autos an uns vorbei gefahren, es liegen VR-Brillen in der Wiese, wie auch ein großer LED-Screen. Immer wieder sind „Öklos“ im Wald aufgestellt, und obwohl so gut es geht auf alle Bedürfnisse geachtet und gewartet wird, läuft alles pünktlich und am Schnürchen.

13:48 Uhr
Menschen sitzen im Wald

Überall zwischen den Bäumen verstreut gucken Köpfe aus dem Unterholz, und eine Kinderstimme fordert uns auf, uns auf den Rücken zu legen, „wie ein Käfer“. Während wir Stefan Kaegis inszeniertem Gespräch zwischen einer Psychoanalytikerin, einem „neugierigen Kind“, einer Sängerin, einem Förster und einem Meteorologen lauschen, befinden wir uns nun offenbar auf dem natürlichsten aller Psychotherapie-Sofas. Wir sollen hoch in die Baumkronen schauen und das Lichtspiel zwischen den Blättern beobachten. „Ist das jetzt Hypnose?“, fragt das Kind. Nicht ganz, aber beruhigend ist die Szene schon: Die im Wind wiegenden Baumkronen, kombiniert mit dem organischen, von Thema zu Thema fließenden Gespräch, das alles und mehr abdeckt, was zum Wald einfallen könnte. Es mäandert von der Psychoanalyse und dem Träumen über Meteorologie angesichts des Himmels über uns zu Borkenkäfern, Wölfen und unheimlichen Naturerlebnissen. Und zwischen den guten und schlechten Seiten der Forstwirtschaft in Österreich lehrt die iranische Sängerin der Gruppe ein Lied, das von den Woman-Life-Freedom-Protesten ihrer Heimat erzählt.

14:04 Uhr

Ein Forstfahrzeug transportiert Holz nebenan und zerstört die ruhige Atmosphäre etwas. In den Kopfhörern regnet es jetzt. Das Kind findet eine Zecke, und weil wir den Rest des Publikums im Gebüsch nicht sehen können, können wir nur mutmaßen, wie sich die Zeckenpanik jetzt ausbreitet …

14:14 Uhr

Die Kürze des eigenen Lebens angesichts der Lebensdauer von Bäumen wird besprochen. Tatsächlich ist die Größe der Buchen beeindruckend. Nicht zum letzten Mal auf der heutigen Wanderung werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass uns unsere Umgebung überdauert, werden wir ermahnt, dass unser Einfluss auf die Natur trotz der Kürze unserer Anwesenheit bedrohliche Ausmaße annimmt. Im Fall von Kaegis Klangstück fällt diese Warnung eher mild aus, geht es in dem von der kindlichen Neugier moderierten Gespräch doch vor allem um Urängste vor dem vermeintlich Wilden und Natürlichen sowie darum, wie wir letztendlich Natur sind und wieder werden. Angenehm locker wird dies zum Beispiel beim Thema Tod vermittelt (Kind: „Kann ich im Wald beerdigt werden?“): Die gleichzeitige Besprechung der gewünschten Form der Bestattung und der Frage, wie lange ein Verwesungsprozess eigentlich dauern kann, stimmt merkwürdig leicht und melancholisch.

14:16 Uhr

Der sehr gelungene 3D-Audio-Mix legt einen doch immer wieder rein. Dieses Mal war ich mir sicher, das Holzhacken rechts hinter mir passiere nun live. Wir lernen außerdem, dass im Wald außer Beeren auch noch illegale Cannabis-Plantagen und alte Waffen gefunden werden können.

14:26 Uhr

Am Ende des circa einstündigen Gesprächs tauchen um uns herum Musiker*innen in grauen Overalls auf und spielen lange, anschwellende, leicht atonale Akkorde. Die Leute falten eifrig ihre Decken oder beißen schon mal ins Pausenbrot und der eigentlich ruhige Moment wird leider von der nervösen Aufbruchsstimmung des Publikums und dem herumkurvenden Forstfahrzeug etwas entzaubert. Dann nimmt die vom us-amerikanischen Komponisten Ari Benjamin Meyers eigens für „Shared Landscapes“ komponierte Musik Fahrt auf. Die teils Vogelgesang imitierenden, teils Arnold Schönberg ins Gedächtnis rufenden Musikstücke begleiten uns heute auf dem Weg und verbinden die Stationen miteinander. Der ohnehin schon beeindruckend flüssig organisierte Tag wird durch die musikalische Intervention erst richtig zu einem Gesamterlebnis. Die Gruppe teilt sich in drei auf und wir folgen dem rosa Wimpel.

14:53 Uhr

Die Guides führen uns vom Weg ab und weisen uns an, die Kopfhörer aufzusetzen: Nun beginnt der interaktive Teil, vor dem wir schon gewarnt wurden. Die Mitmach-Sound-Arbeit von Sofia Dias und Vítor Roriz ist eine poetische Erzählung und eine körperliche Erkundung unserer Umgebung. Den Anweisungen folgend bilden wir rituelle Kreise, betrachten uns gegenseitig, halten uns an den Händen, ahmen Steine, Grashalme und Bäume nach, pirschen uns an andere heran oder verbinden uns mit Stöcken und Laub. Besonders zum Lächeln bringt die meisten die liebevolle Lächerlichkeit des verhaltenen Tanzens mancher, während die andere Hälfte noch still steht. Daneben stehen und nicht mitmachen geht hier eigentlich nicht. Das kann auch unangenehm sein, vor allem, wenn die Erwartung war, nur zuschauen zu dürfen. Und wenn dann auch noch Reaktionen in den Gesichtern der anderen beschrieben werden, die vielleicht gar nicht gesehen werden, kann das eine Abwehrhaltung auslösen, die paradoxerweise ebenfalls von den Erzählerstimmen im Kopfhörer genannt wird.

15:37 Uhr

Die Musiker*innen sind wieder da, von weitem sehen wir die Gruppe „Grüner Wimpel“. Was sie wohl gerade machen mussten? 

15:49 Uhr

Die Immersion in der Natur bildet sich langsam als eines der Überthemen von „Shared Landscapes“ heraus. Sprachen Sofia Dias und Vítor Roriz davon, „die Form der Dinge anzunehmen, um ihre Hülle zu durchdringen“, geht es bei den italienischen Choreograf*innen und Performer*innen Chiara Bersani und Marco D’Agostin um das Auflösen des Selbst in der Landschaft.

Vor einem halbtransparenten Druck einer romantischen Landschaftsmalerei (Caspar David Friedrich?) wird überraschenderweise nicht über die Darstellung von Natur in der Kunst gesprochen, sondern über die Zugänglichkeit der Landschaft. Aus einem Lautsprecher hören wir einen literarisch-essayistischen Text des Duos Bersani und D’Agostin, von denen eine Person mit Behinderung ist, über eine andere Art des Gegenblicks und Perspektivenwechsels: Der Blick in den Himmel wird vom ersten Para-Astronauten John McFall erwidert, dessen Körper in der Schwerelosigkeit den Einschränkungen und politischen Barrieren auf der Erde entgegen steht. Gemeinsam kehren wir zurück in die Schwerkraft, hören auf zu betrachten, um zum Erleben zurückzukommen. Im Wald gelandet, lädt uns Performer Yakut Dogan mit rot-weiß karierter Picknickdecke und kleinem Porzellangeschirr auf türkischen schwarzen Tee und Manner-Waffeln ein.

16:38 Uhr
Auf einer Wiese liegen viele Virtual-Reality-Helme

Noch mehr Perspektivenwechsel: Jetzt sehen wir die Musiker*innen von unten, oben schaut Gruppe „Blauer Wimpel“ auf uns herab. Dann dürfen wir VR-Brillen aufsetzen und fliegen hoch über die Landschaft, auf der wir unsere Füße noch stehen fühlen. Dieses kurze Erlebnis in der Station von Begüm Erciyas und Daniel Köttler wird ergänzt von einer geschriebenen Erklärung über den militärischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Auf Klapphockern sitzend, lesen wir ein Heft über eine Goldmine, die wie eine Wunde in der Landschaft des Südkaukasus aussieht. Es geht um vertikale Dimensionen. Um Gold im Boden unter den Füßen der Bewohner*innen und militärischen Drohnen, die über ihren Köpfen surren.

17:10 Uhr
Ein Schild mit der Aufschrift "Pausenstation"

Endlich Pause. Alle Gruppen sind wieder vereint. Wir sind vielleicht mehr als hundert Personen, die es sich an Biertischen oder auf der Wiese bequem machen. Die Stimmung ist selig und locker. Anna Rot erzählt uns viel später an diesem Tag, wie besonders es war, die Vegetation über zwei Wochen hinweg zu beobachten, wie sich die Farbe des Rapsfeldes immer mehr veränderte, hinter welchem sich die Schauspieler*innen vor ihrer Aufführung verstecken. 

17:58 Uhr

Es geht weiter, leider ohne Kaffee

18:17 Uhr

Und schon die nächste Station. Die Sonne steht schon tiefer und wir können die Grillen zirpen hören. Das Publikum, in Grüppchen auf ihren Decken oder Jacken, beobachtet den gegenüberliegenden Hang. „Die Landschaft wird zur Bühne“, sagt uns Anna Rot am Abend im Café Schubert. Das Bühnenbild: Die Felder um uns sind grün und der Himmel blau, die Umgebung ist so schön, dass man fast auf weitere Eindrücke verzichten könnte. Es raschelt und knistert in den Kopfhörern. Irgendwann ertönt eine Stimme, die uns auf Englisch mitteilt, es handle sich nicht um Oxford-English, sondern EU-Englisch. Anna Rots Auftritt. Das Stück der französischen Regisseurin Émilie Rousset ist wieder ein Gespräch, diesmal das Reenactment dreier Interviews. Anna Rot spielt dabei zwei der Befragten, die dritte ist eine lokale Landwirtin, die sich selbst spielt und den wohl mit Abstand coolsten Auftritt hat. Untermalt von „Highway to Hell“, rollt sie, sich selbst stolz als Bäuerin bezeichnend, im neuen Traktor an.

Im ersten Text – ein Interview mit Faustine Bas-Defossez, der Vorsitzenden des EU-Umweltbüros – wird nicht nur kein Oxford-Englisch gesprochen, Anna Rot übernimmt hier jedes „äh“, jedes Räuspern und jeden grammatikalischen Fehler. „Eine wunderschöne Art, sich den Gedanken von jemandem anzunähern“, sagt die Schauspielerin dazu.

Ihre Stimme hören wir ganz nah an unseren Ohren, während sie sich weit weg in einem weiten Raum befindet. Nicht nur die Distanz zum Publikum, sondern auch die Art, eine Rolle zu präsentieren ist für sowohl Zuschauende als auch Spielende besonders. Anna erzählt uns von der überraschend starken Annäherung an die zwei Figuren, denn trotz der fehlenden biografischen Arbeit, entstehe „ein Ausschnitt, der aber mit so einer Hingabe zur Genauigkeit dargestellt wird, dass er wirklich ihre Faszination und Leidenschaft für ihr Thema erwischt“. Das ist auch eine der Besonderheiten des Stücks: Wenn im zweiten Teil des Stücks Anna Rot als Bioakustikerin Fanny Rybak die verschiedenen Geräusche der Fruchtfliege vorspielt, ist das so nerdy und liebevoll und alltäglich, dass einem die sonst eher trockenen Inhalte über EU-Regulationen und verschwindende Biodiversität sehr nahe kommen. Das ist wichtig, denn, so Anna Rot: „Manchmal verändern die Leute ihre Sprache, wenn sie die Rolle von Expert*innen einnehmen. Das ist auch ein bisschen klassistisch.” Besonders über die großartige Landwirtin transportieren sich die gelebten Folgen von Österreichs Umweltpolitik erschreckend echt.

Eine Schauspielerin steht auf einem Feld

Anna Rot bei der regnerischen Premiere. Foto © Lorenz Seidler, eSel.at

19:06 Uhr

Die vorletzte Station von „Shared Landscapes“. Wir sitzen mal wieder auf dem Boden – auf einem abgemähten Feld. Vor uns eine längliche LED-Tafel, die rot schimmert. Sätze erscheinen und der Landschaft selbst wird durch Untertitel eine Stimme gegeben. Es geht nicht nur um Hügel, Berge, Wälder, sondern auch um Geisteslandschaften. Um Ideen, Theorien und Gedanken. Dann wirft „die Natur“ uns, den Menschen, ihre Ausbeutung, Kolonisation und Entfremdung vor. Sie erinnert uns an unsere gegenwärtige kapitalistische Realität und die Vergänglichkeit des Individuums. Ästhetisch überzeugend, ist dieser Landart-Moment mit über einer halben Stunde etwas zu lang. Während die Argumente und Prognosen, die auf der LED-Tafel zu lesen sind, immer düsterer werden, wird es auch um uns dämmrig. 

Ein kühler Wind kommt auf, als wir um 19:40 Uhr ein letztes Musikstück von Ari Benjamin Meyers hören und uns dann auf den Weg zum Shuttlebus machen. Müde, aber angeregt von Input, Perspektivenwechsel und viel frischer Luft geht es für das Publikum nach einem insgesamt sehr runden Tag nach Hause. 

Prev Next