Interviews

„… die Kette nicht abreißen lassen“

Max Czollek spricht im KREDO-Interview über Erinnerungskultur, den Diskurs nach dem 7. Oktober und die Kraft von Lyrik.

Interview: Carlotta Partzsch, Fotos: Felix Kubitza, Alara Yilmaz

Im Rahmen der Tangente-Konferenz „Erinnerungsbedarf“ konnte ich ein Interview mit dem Autor, Lyriker und Politikwissenschaftler Max Czollek führen. In seiner Keynote am Eröffnungstag der Konferenz prangerte Czollek Deutschlands „Wiedergutmachungsmythos“ an: Damit meint er, dass sich die deutsche Gesellschaft gerade aus der angeblich „überwundenen“ Täterschaft nach 1945 ein positives nationales Selbstbild geben konnte – über das Instrument der deutschen „Erinnerungskultur“. Czollek hingegen plädierte für eine andere, eine plurale Erinnerungskultur.

Max, wie schaffen wir eine Erinnerungskultur, der es gelingt, die unterschiedlichen Narrative verschiedener Opfergruppen anzuerkennen?
Zunächst ist es wichtig, festzuhalten, dass wir es in Deutschland aktuell mit einer Erinnerungskultur zu tun haben, die nur bestimmte Dinge erzählt – und diese nur aus einer bestimmten Perspektive. Die dominante Gruppe erzählt genau die Geschichte, die sie erzählen will, mit der Dramaturgie, die sie für sich vorgesehen hat. Das ist in Deutschland die Dramaturgie der Wiedergutwerdung, die am Ende einen positiven deutschen Nationalismus ermöglicht. Diese Einseitigkeit finde ich erst mal erklärungsbedürftig für eine Gesellschaft, die von sich behauptet und das ja sogar in ihrer Verfassung stehen hat, dass sie eine plurale Demokratie ist. Die Notwendigkeit für eine plurale Erinnerung ergibt sich für mich aus der Verfasstheit dieser demokratischen Gesellschaft.

Max Czollek spricht in ein Mikrofon
Max Czollek bei seiner Keynote zur Konferenz „Erinnerungsbedarf“ in St. Pölten. (Foto: Felix Kubitza)

Was genau bedeutet das?
Die Aushandlung von unterschiedlichen Ansprüchen ist die Aufgabe von Zivilgesellschaft und Politik in der Demokratie. Die Probleme, die dabei entstehen, wenn wir verschiedene Erinnerungsanlässe haben, sind da natürlich mit angelegt. Wenn wir uns also einmal darauf geeinigt haben, dass eine plurale Demokratie auch eine plurale Erinnerungskultur braucht, können wir anfangen, uns konkret darüber auszutauschen: Wie würde ein Erinnern an den Kolonialismus aussehen? Wie würde ein Erinnern an die Verfolgung von Sinti*zze und Rom*nja aussehen? Wie würde eine Erinnerung an anti-slawische Gewalt aussehen? Und so weiter.

Das ist nicht einfach. Aber ich bin mir gar nicht so sicher, ob auf der konkreten Ebene der Gewalt so viel gegenseitige Ausschließlichkeit existiert, wie das manchmal in der Öffentlichkeit scheint. Jedenfalls ist das nicht das, was ich im Austausch mit anderen Communitys erlebe. Es gibt ja weder einen Mangel an Trauer, noch gibt es ein Problem, sich gemeinsam über die Geschichte zu erschrecken – wenn man einmal Abstand genommen hat von dieser Fantasie der „guten“ deutschen Geschichte. In meinem Buch „Versöhnungstheater“ schreibe ich dazu: Es ist genug Trauer für alle da. 

Probiert euch klarzumachen, was gerade auf dem Spiel steht!

Inwieweit siehst du eine Kontinuität deiner Thesen im Diskurs in Deutschland und Österreich nach dem 7. Oktober 2023 und jetzt mit dem Krieg in Gaza?
Ich würde da mindestens zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Die eine ist die staatliche Ebene. Hier geht es um Fragen wie die, wer für die Sicherheit von Menschen in diesem Land sorgt oder wie auch statistisch relevante Probleme wie ein zunehmender antimuslimischer Rassismus oder der auch unter Muslim*innen verbreitete Antisemitismus bekämpft werden. [Der deutsche Bundeskanzler, Anm.] Olaf Scholz hat letztere Frage als ein Problem „illegaler Migration“ diskutiert und damit zugleich gesagt: Die vier Millionen Muslim*innen, die in Deutschland leben, sind illegal eingewandert und können abgeschoben werden. Eine andere Darstellung wäre: Wir haben hier vier Millionen Muslim*innen, die spätestens seit den 1960er Jahren als Gastarbeiter*innen gekommen sind, die in der zweiten, dritten Generation in diesem Land sind, und dementsprechend haben wir hier ein deutsches Problem, das sich nicht einfach „abschieben“ lässt. Die Politik führt hier wenig überraschend eine Diskussion fort, die wir aus den Integrationsdebatten kennen. Das ist halt die Politik – von der erwarte ich mir, ehrlich gesagt, nicht mehr viel. 

Max Czollek spricht zum Publikum
Die Konferenz „Erinnerungsbedarf“ fand im Festivalzentrum der Tangente statt. (Foto: Alara Yilmaz)

Nun gibt es aber auch die andere Seite: die Zivilgesellschaft. Und dort haben ja Menschen miteinander zu tun und keine Staaten. Als Menschen haben wir keine Räson, sondern Menschlichkeit, direkte Ansprache, die Fähigkeit, sich auszuhalten, einander zuzuhören, die Trauer des Gegenübers zu tragen. Alles Dinge, die wir jetzt Jahrzehnte miteinander eingeübt haben, in Antidiskriminierungsseminaren und in der gemeinsamen Bündnisarbeit. Und da muss ich sagen, die Situation nach dem 7. Oktober war schon eine richtig große Enttäuschung. Wir führten Diskussionen, die wirklich nicht auf der Höhe dessen sind, was wir uns seit Jahrzehnten gegenseitig erzählt haben. Und auch nicht auf der Höhe dessen, was wir theoretisch schon erarbeitet haben. Jetzt mal ehrlich, eine postmigrantische Gesellschaft kann doch nicht die ganze Zeit diskutieren, ob es denn möglich sei, dass man gleichzeitig diskriminiert wird und selbst andere diskriminiert. Ja, selbstverständlich ist das möglich. Was glauben Leute denn, was Intersektionalität bedeutet? Natürlich können Muslim*innen antisemitisch sein, genau wie übrigens Jüdinnen und Juden rassistisch sein können. Und beiden können dazu noch homophob sein. Dass an dieser Frage ganze Bündnisse auseinanderbrechen, halte ich für naiv und zugleich auf eine ungute Weise Ausdruck einer Kriegslogik, die nur noch „gut“ oder „schlecht“ kennt. 

Man muss also sagen: nicht nur die Politik, auch unser Gegenentwurf hat nach dem 7. Oktober versagt. Und das bedeutet: Wir müssen noch mal ganz neu ansetzen.

Und wie können wir trotz dieser aufgeladenen Diskurse zusammenhalten?
Probiert euch klarzumachen, was gerade auf dem Spiel steht! Das ist für uns ja nicht der Krieg in Nahost. Den können wir von Deutschland oder Österreich aus nur sehr bedingt beeinflussen. Was auf dem Spiel steht, ist die plurale Demokratie bei uns. Es kann sein, dass wir im kommenden September die erste AFD-Regierung in einem deutschen Bundesland haben. In Österreich ist die FPÖ gerade stärkste Kraft bei der EU-Wahl geworden. Das wäre ein angemessener Grund für eine Krise. Und wir haben einfach keine Zeit für eine Debatte, bei der wir uns am Ende alle gegenseitig kaputtmachen, ohne dass es irgendwem wirklich weiterhilft.

Seit dem 7. Oktober schreien sich die Leute die ganze Zeit gegenseitig an, um ja nicht die eigene Verheerung fühlen zu müssen.

Was passiert in der Globalisierung mit nationaler Erinnerungskultur?
Wir haben uns daran gewöhnt, Intersektionalität immer nur als Intersektionalität des Opferseins, des Diskriminiertseins zu denken, aber natürlich gibt es auch eine Intersektionalität der Täter*innenschaft, der Kompliz*innenschaft. Wir sind meistens sowohl diskriminiert als auch Kompliz*innen dieses Systems und profitieren davon schon allein, wenn wir einen deutschen oder österreichischen Pass haben. Das gilt ja auch für politische Positionen: Ich kann zwar sagen, dass ich keine Lust auf Nationalismus habe, aber der deutsche Pass wird mich trotzdem beschützen. 

Cover des Buches Versöhnungstheater
Das aktuelle Buch von Max Czollek: „Versöhnungstheater“. (Foto: Hanser Verlag)

Diesen Fakt diskutieren wir übrigens systematisch beim Institut Social Justice und Diversity, dem ich angehöre. Das Konzept, das wir vorschlagen, ist die Unterscheidung zwischen Privilegien und Ressourcen. Während man Privilegien – wie etwa eine Staatsbürgerschaft – nicht teilen kann, geht das mit Ressourcen – wie etwa Geld – schon. Das bedeutet auch, dass meine Klassenzugehörigkeit, meine Herkunft, mein Geschlecht nicht dadurch aufgehoben werden, indem ich diese Attribute kritisiere. Wir können versuchen, uns immer wieder in ein kritisches Verhältnis dazu zu setzen, aber das beendet noch nicht die Tatsache, dass wir davon profitieren.

Ich finde das ist ein Aspekt, der bei einer Bündnisarbeit nach dem 7. Oktober noch mal stärker ins Zentrum rücken müsste: Wie sehr wir Kompliz*innen eines Systems bleiben, selbst wenn wir politisch eine kritische Position dazu einnehmen und uns so sehr wünschen, nicht Teil der Gewalt zu sein. 

Du bist politischer Autor und Lyriker, kannst du uns etwas über deinen Schreibprozess erzählen?
Bei meinen politischen Texten fällt manchmal hinten runter, dass sie auch eine Form haben. Das sind auch punchlinige Texte, bei denen ich viel aus der US-Amerkanischen Essaytradition, viel aus der DDR-Literatur, aber auch viel von Hip-Hop gelernt habe. Außerdem erscheint gerade mein nächster Gedichtband – „Gute Enden“. Der dreht sich um die Frage, wie wir weitermachen, nachdem sich die Hoffnung als vergeblich erweist, dass die ganze Geschichte nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts gut endet. Es ist ein Gedichtband über Trauer. Ein Band über die Frage: Kann Trauer auch ein Ausgangspunkt für Handlungsmacht sein? Und ich glaube, dafür brauche ich Lyrik. Das heißt, ich suche auch immer wieder Formen, mit denen ich das, was mir jetzt gerade wichtig scheint, vermitteln kann. Ich habe das Gefühl, seit dem 7. Oktober schreien sich die Leute die ganze Zeit gegenseitig an, um ja nicht die eigene Verheerung fühlen zu müssen. Dabei ist doch die Realität, die ich wahrnehme, dass wir am 7. Oktober alle verloren haben. Alle. Die postmigrantische Vision einer besseren Gesellschaft, die zionistische Vision eines besseren Nationalstaates, die deutsche Vision einer erfolgreichen Aufarbeitung. Wenn ich mir angucke, was gerade ansteht, müssten wir auch endlich eine Sprache dafür finden, zu betrauern, was alles verlorengegangen ist. Das versuche ich mit meinem aktuellen Gedichtband.

Wieso schreibst du Lyrik? Und was kann Lyrik?
Mein Großvater war Verleger von einem DDR-Verlag, Volk und Welt, in dem ganz viel Lyrik verlegt wurde. Mein Vater hat sehr viele Gedichte geschrieben. Er ist gestorben, als ich 12 Jahre alt war. Die erste zentrale Funktion von Lyrik ist für mich, das Gespräch mit den Toten zu führen. Nicht nur mit meinen Familienmitgliedern, sondern auch mit all den Autor*innen, die nicht mehr leben. Bertolt Brecht hat einen Text verfasst mit dem Titel: „An die Nachgeborenen“. Und ich habe mit der Idee, darauf zu reagieren, ein Gedicht geschrieben, das heißt „An einen Vorgeborenen“. Ich war noch nicht geboren, aber du bist schon tot, und wie findet jetzt das Gespräch statt? Das kann Lyrik. Dieses Gespräch kann in der Lage sein, Dinge sichtbar zu machen, die wir so nicht in unserer Gegenwart sehen können. Lyrik kann vergangene Zeiten in den Raum holen. Der Text ist eine Möglichkeit, über die Zeiten zu kommunizieren. Übrigens ist das auch eine sehr jüdische Vorstellung: Im Moment, in dem man sich hinsetzt, um zu studieren, sitzen die Weisen mit dir im Raum. Das ist eine tröstliche Vorstellung, finde ich, weil es einem möglich macht, die eigene Lebendigkeit zu überschreiten. Hinter uns ist eine so endlose Reihe an Menschen, die ermöglicht haben, dass wir heute hier sein können. Und mit denen stehen wir doch in Kontakt schon allein durch unseren Körper, der ja das Ergebnis dieser ungebrochenen Reihe ist. Wäre sie einmal gebrochen, wäre der Körper nicht da. Und auch nicht die Hand, die den Text schreibt, und der Kopf, der ihn denkt.

Zum Schluss will ich dich noch fragen, was dir Zuversicht gibt?
Ich habe ja schon gesagt, dass mich aktuell beschäftigt, warum uns dieses Eingeständnis so schwer fällt, dass wir gerade verlieren. Das klingt total traurig, aber die Anerkennung dieser Niederlage rückt uns auf eine Weise wieder in eine Geschichte, von der wir dachten, wir hätten nichts mehr mit ihr zu tun. Und das bedeutet auch, dass wir uns wieder an unsere eigene Community, an eine Geschichte der Selbstbestimmung, eine Geschichte des Widerstehens annähern.  Die Trauer öffnet uns dieses Archiv der Handlungsmacht, wenn wir uns einmal von der Idee verabschiedet haben, dass wir „gewinnen“ werden. Und damit verabschieden wir uns doch auch von der Idee der Hoffnungslosigkeit. Denn wenn wir nicht mehr darauf hoffen, zu gewinnen, sondern eher zu widerstehen, weiterzumachen und die Kette nicht abreißen zu lassen, dann verschwindet auch dieses Gefühl. Dann ist es einfach nicht mehr so zentral. Ich denke, dass wir diese Neuausrichtung der Hoffnung auf die Widerständigkeit brauchen werden. Sicher die kommenden zehn Jahre. Du merkst, gute Enden kriegst du von mir nicht, aber das hast du dir vermutlich eh gedacht, oder?

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