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Intime Momente des Politisch-Künstlerischen

Ich nahm die Route Zentrum: X-Erinnerungen, die theatrale Schnitzeljagd durch St. Pölten, führt in intimen Begegnungen durch private Wohnungen, öffentliche Gebäude und leerstehende Geschäfte. Ein Ausdauerlauf mit gleichermaßen individuellen wie gemeinschaftlichen Erfahrungen.

Text: Liese Schmidt, Fotos: TangenteSt.Pölten/X-Erinnerungen

Mangels weiterer Besucher*innen und mit den von der Hitze geleerten Straßen wirkt das pittoreske Zentrum St. Pöltens wie eine Kulisse aus einem österreichischen Heimatfilm. Angesichts der brennenden Sonne mit Wild-West-Elementen vorstellbar. Vielleicht ein Showdown vor dem barocken Rathaus oder ein paar Geier, die an einem toten Bieber zupfen. Alleine mit den Zetteln, die durch die Straßen führen, könnte jedes Haus eine Bühne sein und eine Performance beherbergen, was der Veranstaltung sehr zugute kommt. Die vielen Strecken zu Fuß und die gelegentliche Verwirrung, welches Haus gemeint ist oder wo die Besucher*innen abgeholt werden, sind anstrengend, fördern aber auch den Entdeckungscharakter der Route. 

Flexibles Exportkonzept

Das Format von „X-Erinnerungen“ wurde bereits 2002 von Matthias Lilienthal als „X-Wohnungen“ entwickelt und mittlerweile in so vielen verschiedenen Städten und mit immer neuen Dramaturgien und Involvierten aufgeführt, dass mehrere Medien es schon als „Exportschlager“ bezeichneten. Dabei ging es in den verschiedenen Städten meist darum, in sogenannten „Problembezirken“ zu inszenieren, bzw. Begegnungen mit Menschen und Orten zu schaffen, die gesellschaftlich ausgegrenzt, unterdrückt oder vernachlässigt werden. 

Im Gegensatz zu den ghettoisierten Satelliten-Sozialbauten Berlins oder extrem armen Vierteln Istanbuls ist das Zentrum St. Pöltens mit seinen sauberen Straßen und renovierten Fassaden das Sinnbild des Privilegs schlechthin. Trotzdem vereint die Stationen ihre Gesellschaftskritik, die dann vor allem aus der Auswahl der teilnehmenden Künstler*innen entsteht.

Kritische Stimmen hinter barocker Dekadenz

Eine der spannendsten Einladungen in einen sonst weniger zugänglichen Raum bietet das Bürgermeisterzimmer in St. Pöltens Rathaus. Der kleine Saal überflutet direkt alle Reize durch bunte und goldene barocke Dekadenz, eine merkwürdig raumgreifende Brunnenskulptur und gerahmte Porträts der Generationen an männlichen Bürgermeistern. Wenn auch ablenkend, bietet er einen eindrücklichen Kontrast zum politischen Song, den Elisabeth Weilenmann und ihre Schwestern nach einer persönlichen Slideshow mit Kinderfotos vorsingen. Das Lied ist eine Neuinterpretation des „Canción sin miedo“ von Vivir Quintana, dem „Lied ohne Angst“, ein zur Hymne gewordenes Protestlied gegen Gewalt an Frauen und in dieser Version ein empowerndes Klagelied über die vielen Feminizide in Österreich, dem europaweiten Spitzenreiter-Land in Sachen misogyner Gewalt. 

Intime Stille

Nachdem das Lied verklingt, muss Elisabeth Weilenmann ihre Schwestern vom Quatschen abhalten, und Station für Station entwickelt sich besonders das Nicht-Sprechen zum durchgehenden Stil der Performances. In der Stille entscheiden die Performenden, wann, wo, wie und wie lange Besucher*innen sein dürfen. Und anders als im Theater dreht sich so das Machtverhältnis zwischen Performer*in und Zuschauer*in um. Es gibt bestimmte Choreografien, denen auch die Besucher*innen folgen müssen und die sie in fremdbestimmte Situationen bringen, deren Dauer durch Helfer*innen und Performende strikt getaktet ist. Die Performances erscheinen dann weniger als Dienstleistung als als Privileg – oder haben auch zwanghafte Züge. Das Liegen auf dem raschelnden Bett in Madina Esmursaevas Wohnung ist so eine ungewohnte Position, und Hosy Tao bietet einen genau zehnminütigen Einblick in sein besonders skurriles und liebenswürdiges Museum, das im umfunktionierten Wohnzimmer einen wilden Mix aus berühmten Gebäuden in aufwändigen Pappminiaturen, christlichem Weihnachtsschmuck und Fantasy-Figuren zeigt. Und so schnell es begann, ist es dann auch wieder vorbei, und die Besucher*innen werden zügig in die Hitze rausgeschmissen.

Eine Person mit traditioneller Maske steht auf einem Balkon.
Die kolumbianische Performerin María Galindo war eine von 21 Künstler*innen bzw Künstlergruppen, die X-Erinnerungen mitgestalteten. (Foto: TangenteSt.Pölten/X-Erinnerungen)

Der inhaltliche Nachdruck von gezwungener Nähe

Die strengen Anweisungen ohne jegliche Erklärung oder Einleitung verleihen den gesellschaftskritischen Performances besonderen Nachdruck. Hier gibt es kein sanftes, distanziertes Theater, sondern nur nahe Begegnungen. Geradezu verstörend intim wird es beispielsweise, wenn Tänzerin und Choreografin Marga Alfeirão mit Fake-Gewehr in der Hand den Weg in ein schwarzes Auto weist, in welchem Besucher*innen zu einer aggressiv-erotischen Car-Wash-Erfahrung quasi gezwungen werden. Oder wenn man anschließend im 14. Stock eines Hochhauses von María Galindo mit Spielgeld beworfen wird, es aus der Waschmaschine holen muss oder nachdrücklich dazu aufgefordert wird, es vom Teller zu essen. Hinter der Maske, die das Gesicht der anarchafeministischen Aktivistin verdeckt, ertönt ein anklagender Text. Ohnehin verkörpert dieser Abschluss der fast dreistündigen Tour das Format von X-Erinnerungen perfekt in seiner Mischung aus Improvisation und Planung, von Bühne und Privatraum. 

Überraschend im Programm sind dann die beiden Stationen, die vielleicht am wenigsten St.-Pölten-Bezug aufweisen und deren Räume leer bleiben. Die Stationen der zwei Tänzer*innen Dana Michel und Trajal Harrell sind dafür sonst sehr museums- und bühnenfertig und fallen durch ihre inhaltliche und choreografische Prägnanz auf. Im White Cube einer leeren Ladenfläche schlafen zwei Performende unter Einfluss des Schlafmittels Ambien, die sich laut einem begleitenden Chatverlauf, in dem Harrell seine Gedankengänge erklärt, durch das Nicht-Bewegen der Choreografie und dem Spektakel entziehen. Geboren aus der Kollaboration mit Modedesigner*innen und Fotograf*innen ist „The Ambien Piece“ auch ein Kommentar auf die Modewelt, in der das Schlafmittel besonders verbreitet ist.

Inspektion auf dem Twin-Peaks-Teppich

Während sich hier die Blicke auf die exponierten schlafenden Körper richten, werden bei Dana Michels Station die Besucher*innen selbst fragend betrachtet. Zweifelnd und teilweise bestimmend lotst Michel Besucher*innen über den hochflorigen braunen Teppichboden, der jeden Winkel der Wohnung füllt und der die leere Dachgeschosswohnung an die surrealen Räume aus David Lynchs „Twin Peaks“ erinnern lässt. Fremd werden die Wohnung und ihre wenigen Objekte in den Bewegungen Dana Michels, die die Objekte und Besucher*innen inspiziert als seien sie faszinierende, aber mit Vorsicht zu genießende Überbleibsel einer fremden Welt.

Schwups zurück in der bekannten Welt bleiben die Wohnungen wieder verschlossen, rückt aber die Stadt etwas näher. Ein tolles, aber durchaus forderndes Format.

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