Interviews

„Was ist das überhaupt – ‚unsere‘ Geschichte?“

Vier Jahre nach der Operation Luxor: Farid Hafez im Interview über populistische Politik, das Feindbild „muslimischer Mann“ und eine plurale Erinnerungskultur. Ein Beitrag zur Tangente-Konferenz „Erinnerungsbedarf“.

Interview: Mahsa Ehsani Fotos: Mahsa Ehsani, Arwa Elabd, Felix Kubitza

Im Rahmen der Tangente-Konferenz „Erinnerungsbedarf“ hörte das Publikum im Festivalzentrum in der St. Pöltner Linzer Straße unter anderem zwei Vorträge über zwei Polizei-Operationen, die bereits Teil der österreichischen Zeitgeschichte sind. Die beiden Razzien liegen zwei Jahrzehnte auseinander, haben aber viel gemeinsam: Zunächst sprach Simon Inou über die „Operation Spring“ im Jahr 1999, anschließend berichtete Farid Hafez aus erster Hand von der „Operation Luxor“ vom 9. November 2020. Beide Vorträge legten eindrücklich offen, wie der österreichische Staat systematisch und mittels Polizeigewalt gegen Minderheiten und kritische Stimmen vorgeht.

KREDO hat den Politikwissenschaftler Farid Hafez im Anschluss an die Tangente-Veranstaltung für ein ausführliches Gespräch getroffen. Hafez berichtet von den schwerwiegenden Folgen der „Operation Luxor“ für ihn und andere Betroffene, er bemängelt die fehlende Solidarität der muslimischen Zivilgesellschaft, und er macht sich Gedanken zum Thema der Tangente-Konferenz: Wie kann eine plurale Gedenk- und Erinnerungskultur in unserer Migrationsgesellschaft aussehen?

Publikum in einem Veranstaltungsraum
Voller Saal im Festivalzentrum: Farid Hafez trat als einer von mehreren Vortragenden bei der Tangente-Konferenz „Erinnerungsbedarf“ am 1. und 2. Juni 2024 auf. (Foto: Felix Kubitza)

Herr Hafez, die „Operation Luxor“ ist nun fast vier Jahre her. Ihr Leben hat sich am Abend des 9. November 2020 grundlegend verändert. Sie waren eines der Ziele der Polizeirazzia, wurden „terroristischer Aktivitäten“ verdächtigt, bis Ihr Verfahren 2023 ergebnislos eingestellt wurde. Heute leben und forschen Sie in den USA. Wie analysieren Sie heute – aus einiger zeitlicher und räumlicher Distanz – die damalige Polizeiaktion? Was ist damals passiert?

Farid Hafez: Wir können es heute so zusammenfassen: Die Operation Luxor war eine der größten rassistischen Polizeioperationen in der österreichischen Nachkriegszeit. Insgesamt 940 Beamte führten am 9. November 2020 um fünf Uhr morgens in drei Bundesländern eine Massenrazzia gegen 70 muslimische Institutionen und Einzelpersonen durch. Auf der rechtlichen Ebene wurde behauptet, dass es sich bei den Verdächtigen um potenzielle Terrorist:innen sowie kriminelle und staatsfeindliche Organisationen handele. Politisch hieß es, man wolle „die Wurzeln des politischen Islam kürzen“ und „die Hintermänner des Terrors“ bekämpfen. Doch was sich mit der Zeit herausstellte, war das Gegenteil: Es hatte nicht einmal einen Anfangsverdacht gegeben, um diese Razzia überhaupt zu legitimieren. Auch fast vier Jahre später ist es zu keiner einzigen Anklage gekommen, geschweige denn zu einer Untersuchungshaft oder einer Verurteilung. Man muss daher feststellen: Die Operation Luxor war nichts anderes als ein massiver Einschüchterungsversuch gegen unterschiedliche muslimische Gruppen in Österreich, die zivilgesellschaftlich organisiert waren. Darunter befanden sich auch Personen wie ich, die immer wieder deutlich und klar die islamophobe Politik der ÖVP-geführten Bundesregierungen der letzten Jahre kritisiert haben.

Mit dieser Analyse sind Sie nicht allein. Prominente Jurist:innen und mehrere Medien schätzen die Sache ähnlich ein. Es handelt sich wohl um einen der größten Justiz- und Polizeiskandale der 2. Republik – und auf politischer Ebene gibt es keinerlei Konsequenzen. Wie ist das möglich?

Farid Hafez vor einer Wand mit Büchern
Farid Hafez bei einem Auftritt im Juni 2024 in der Wiener Buchhandlung bibliobox. (Foto: Arwa Elabd)

Hafez: Erstens, weil wir in Österreich leben. Es gibt hier in der Politik keine Rücktrittskultur. Zweitens, weil es einen breiten politischen Konsens über die Parteien hinweg gibt, vor allem aber bei der Kanzlerpartei ÖVP, dass der sogenannte „Politische Islam“ – was immer das auch sein mag – eine akute Gefahr für die Demokratie und die Republik Österreich darstelle. Und drittens gibt es noch die österreichischen Muslim:innen, die zu wenig Macht haben, um sich gegen derartige Kampagnen zu wehren. Beziehungsweise verhalten sie sich oft genau deswegen zu kollaborativ mit den jeweiligen Regierungen, um eine klare Position einnehmen zu können. 

In Ihrem neuen Buch „Wie ich zum Staatsfeind erklärt wurde“ beschreiben Sie auch diese Wahrnehmung: Weder von der muslimischen Zivilgesellschaft noch von der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) habe es nach der Razzia einen besonders lauten Aufschrei gegeben. Worauf führen Sie das zurück?

Hafez: Zum einen gibt es in Österreich generell ein sehr starkes Vertrauen in die staatlichen Behörden. Ziviler Ungehorsam ist so gut wie gar nicht entwickelt. Zum andern werden die muslimischen Organisationen meist noch immer von Migranten der ersten Generation geleitet. Sie kommen aus Ländern, in denen das Obrigkeitsdenken noch viel stärker ausgeprägt ist – und so sind sie auch sozialisiert. Es herrscht wenig kritisches Bewusstsein gegenüber dem Staat und dessen Repräsentant:innen. Und dann gibt es natürlich noch einen Aspekt – nämlich, dass es innerhalb der muslimischen Community in Österreich Machtspiele gibt, und vielleicht haben sich so manche sogar gefreut, dass die „Operation Luxor“ passiert ist. 

Cover des Buches „Wie ich zum Staatsfeind erklärt wurde“ von Farid Hafez
Aufarbeitung und Analyse: Farid Hafez’ Buch „Wie ich zum Staatsfeind erklärt wurde“ ist 2024 erschienen. (Foto: Promedia Verlag)

Denken Sie, dass nach allem, was passiert ist, eine zweite „Operation Luxor“ möglich wäre?

Hafez: Sie wäre absolut möglich. Wir sehen das auch an einem bestimmten Revisionismus, der nun eingesetzt hat – damit meine ich den Versuch, die „Operation Luxor“ doch wieder als Erfolg darzustellen. Die ursprüngliche Position der Regierung angesichts des Luxor-Debakels war es ja, keine Verantwortung zu übernehmen. Das Justizministerium schob die Schuld aufs Innenministerium, das Innenministerium zurück aufs Justizministerium und das Justizministerium wiederum auf die unabhängige Staatsanwaltschaft. Seit dem 7. Oktober 2023 kommt insbesondere aus dem österreichischen Sicherheitskomplex ein neuer Diskurs, nämlich zu sagen: Die Polizeiaktion sei eigentlich ein Erfolg gewesen, nur habe die Justiz danach falsch gehandelt. Eine Wiederholung einer solchen Aktion ist also noch immer denkbar und wird so lange denkbar bleiben, bis große Teile der antirassistischen und muslimischen Zivilgesellschaft dagegen klare Kante zeigen. Ein aktuelles Beispiel ist der Umgang mit dem Hilfsverein Rahma: Der Verein hat bereits unter der Operation Luxor gelitten, alle Anschuldigungen wurden aber danach fallengelassen. Jetzt ist Rahma wieder unter Bedrängnis – 700 Spenderinnen und Spender wurden vom Staatsschutz verhört. Das ist eine neue Eskalation der Einschüchterung, und wieder hören wir keinen Aufschrei – weder von anderen Hilfsorganisationen noch von irgendwelchen muslimischen Organisationen. 

Die fehlende Solidarität hat vielleicht auch damit zu tun, dass Muslim:innen nach wie vor medial als große Bedrohung für die Gesellschaft konstruiert werden. Wie betrachten Sie diesen Diskurs?

Hafez: Ich würde in diesem Bedrohungsbild den Gender- und Sexualitäts-Aspekt noch extra hervorheben. Wir kennen diesen Aspekt ja schon aus dem antisemitischen Diskurs des 20. Jahrhunderts, wo insbesondere „die jüdische Frau“ weiße christliche Männer verführt. Im antimuslimischen und im antischwarzen Rassismus dominiert diese Idee, dass es einen hypersexuellen und gewaltaffinen dunkelhäutigen Mann gibt. Der gewalttätige muslimische Mann steht fast im Zentrum dieses Weltbildes. Die muslimische Frau hingegen wird zum Opfer gemacht, das des Schutzes der weißen Dominanzgesellschaft bedarf. Der muslimische Mann wird zur stärksten Bedrohung unserer Zeit geframet, die dann auch entsprechend bekämpft werden muss: Es braucht stärkere Sicherheitsmaßnahmen gegen ihn, er muss präventiv „deradikalisiert“ werden und so weiter. Langfristig betrachtet ist dieses Phänomen ein Auswuchs des globalen „Krieges gegen den Terror“. Es fügt sich auch wunderbar in die derzeitigen Debatten nach dem 7. Oktober. 

Der muslimische Mann wird zur stärksten Bedrohung unserer Zeit geframet.

Bleiben wir bei der „Deradikalisierung“. In Ihrem Buch kritisieren Sie Maßnahmen wie zum Beispiel jene, dass ausgerechnet Polizist:innen an österreichischen Schulen „Präventionsarbeit“ leisten gegen Extremismus. Warum gefällt Ihnen das nicht?

Hafez: Die Idee, Menschen deradikalisieren oder präventiv gegen Extremismus einstellen zu müssen, basiert ja auf einer gewissen Annahme: nämlich dass bestimmte Bevölkerungsgruppen eine gewisse Affinität zu Gewalt, zu sogenanntem radikalem Denken, zu extremistischen Ansichten aufweisen würden. Und diese Annahme ist eine rassistische. 

Aber inwieweit ist es eine rassistische Annahme?

Hafez: Es offenbart sich als rassistische Annahme, wenn wir uns vor Augen führen, wie sich die Begriffe „Extremismus“ und „Terrorismus“ in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Ich zitiere immer gerne den palästinensischen Denker Edward Said, der gesagt hat: Terrorismus ist ein Begriff der Starken, um die Schwachen zu unterdrücken. Mit dem „Krieg gegen den Terror“, etwa im Kontext von Al-Qaida und des islamophoben Diskurses drumherum, wurden die Begriffe rassifiziert. Wenn wir heute alltagssprachlich den Begriff Extremismus verwenden, dann reden wir fast nur mehr über und haben in unseren Köpfen fast nur mehr Bilder von Muslim:innen, besser gesagt von muslimischen Männern. Da werden Millionen an Euro jährlich hineingepumpt in einen Apparat, der sich um dieses „Problem“ kümmern soll. Aber gleichzeitig wird Gewalt, die aus der weißen Dominanzgesellschaft kommt, nicht als eine weiße Gewalt dargestellt, sondern als ein Einzelfall nach dem andern.

Und die Rolle der Polizei ist Ihnen in diesem Kontext erst recht suspekt? 

Hafez: Ich sehe eine gewisse Militarisierung der Gesellschaft, wenn junge Menschen in der Schule von der Polizei besucht werden, um sozusagen zur Polizei hin sozialisiert oder kultiviert zu werden. Es wird eine Normalität erzeugt, in welcher der Polizeiapparat für dich als Bürger:in da sei. Aber wenn wir etwas bei der „Operation Luxor“ gesehen haben, dann ist es, dass die Polizei gegen dich als Bürger:in eingesetzt wird. Mir erscheint das wie eine frühzeitige Disziplinierung von Schüler:innen, dem Staatsapparat uneingeschränkt zu vertrauen und auch gleich die rassifizierenden Mechanismen des Diskurses über Gewalt zu verfestigen, den junge Menschen internalisieren sollen.

Ein Bildschirm, der auf einer Bühne steht, zeigt das Gesicht von Farid Hafez.
Per Videokonferenz anwesend: Farid Hafez bei „Erinnerungsbedarf“ im Festivalzentrum der Tangente. Rechts unten lauscht der Musiker Tayfun Guttstadt. (Foto: Felix Kubitza)

Denken Sie, dass Projekte wie etwa Simon Inou sie macht, indem er mit Studierenden an diskriminierungsfreien Schulbüchern arbeitet, für ein inklusiveres Schulklima sorgen können? 

Hafez: Absolut. Und es gibt unzählige Studien zum problematischen Islambild in der Schule und in Schulbüchern, die schon vor Ewigkeiten veröffentlicht wurden. Aber am Ende des Tages darf man eines nicht vergessen: Die bestimmende Komponente ist immer die Lehrkraft. Und wir leben in einer Gesellschaft, wo Rassismus so weit verbreitet ist, dass viele Menschen es nicht einmal begreifen, wenn sie etwas Rassistisches tun oder sagen. Ich habe nichts dagegen, symptomatisch Lehrbücher zu verändern, ich finde das gut. Aber eigentlich braucht es eine viel umfassendere Auseinandersetzung innerhalb der österreichischen Gesellschaft mit Rassismus. Außerdem braucht es auch Schüler:innen-Organisationen, die sagen: Dieses und jenes wollen wir nicht mehr mitmachen und nicht mehr dulden.

Können Sie sich vorstellen, dass eine solch breite und selbstkritische Auseinandersetzung mit Rassismus von politischen Entscheidungsträger:innen forciert oder gefördert werden könnte?

Hafez: Nein, kann ich mir nicht. Es wird sich so lange nichts ändern, solange sich jene Leute, die von Rassismus betroffen sind, nicht einbringen können. Und davon sind wir ganz weit entfernt – insbesondere in Österreich, wo es ein enorm hartes Staatsbürgerschaftsgesetz gibt, das für einen großen Teil der Bevölkerung Mitbestimmung unmöglich macht. 

Wir brauchen eine österreichische Erinnerungskultur, bei der sich auch jene Menschen angesprochen fühlen, deren Familien nach 1945 eingewandert sind.

Besonders jene Muslim:innen, die 2015 eingewandert sind, bleiben demnach von politischer Teilhabe ferngehalten – und das ganz bewusst, meinen Sie?

Hafez: Ja, ich würde sogar viel weiter zurückgehen als 2015. Es geht auch um alle Muslim:innen, die seit den 1960er Jahren da sind. Generell ist der Anteil von Staatsbürger:innen innerhalb der muslimischen Community Österreichs gering. Wir haben nur Schätzungen, aber es sind wahrscheinlich weniger als 50 Prozent. Und von denen, die 2015 und danach gekommen sind, sind es noch viel, viel weniger.

Kehren wir wieder zur Tangente in St. Pölten zurück und zur Konferenz „Erinnerungsbedarf“. Wie könnte oder sollte aus Ihrer Sicht ein „plurales Erinnern in Migrationsgesellschaften“ – so der Untertitel der Konferenz – aussehen? 

Hafez: Die österreichische Erinnerungskultur geht immer davon aus, dass „wir“ in der Vergangenheit einmal etwas gemacht haben – zum Beispiel nationalsozialistische Verbrechen –, und jetzt müssen „wir“ darüber kritisch reflektieren und uns der Geschichte stellen. Aber was ist das überhaupt – „unsere“ Geschichte? In vielerlei Hinsicht brauchen wir sicherlich eine ausdifferenziertere und breitere Erinnerungskultur. Damit auch jene Menschen sich angesprochen fühlen können, deren Familien nicht seit 200 Jahren in Österreich leben, sondern die erst in den Jahrzehnten nach 1945 eingewandert sind.

In Österreich ist ein antisemitischer Diskurs auch in der Spitzenpolitik immer weit verbreitet geblieben.

Die andere Frage ist: Wer konstruiert unser Verständnis der österreichischen Geschichte? Bleiben wir bei den Muslim:innen: Ich habe 2019 gemeinsam mit dem Rechtshistoriker Rijad Dautović einen Sammelband herausgegeben über die 110-jährige Geschichte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Es ist wichtig, dass es eine Wissensproduktion gibt über Vergangenheit und Gegenwart, die aus der Feder von – in diesem Fall – Muslim:innen kommt. Damit wir es sind, die sprechen. Dazu braucht man natürlich die menschlichen Ressourcen – also Historiker:innen und andere Sozialwissenschaftler:innen. Und man braucht Orte, wo das Anerkennung findet. Es gibt sicherlich viele Leute, die gute historische Arbeit gemacht haben, die aber nie anerkannt wurde, weil diese Leute nie Positionen an österreichischen Universitäten bekommen haben. Und in der muslimischen Community wiederum sehen wir vieles davon nicht, weil wir keine Institutionen haben, wo wir derartige Leistungen honorieren und feiern könnten. Die Frage, wer unseren Wissensschatz und unsere Erinnerung definiert, verlangt jedenfalls einen viel kritischeren Blick. 

Sie meinen, man müsste eigentlich viel tiefer und viel früher ansetzen, um überhaupt eine wirklich plurale Erinnerungskultur zu erhalten? 

Hafez: Genau. Die entscheidende Frage ist: Wie viel Agency nehmen wir uns als muslimische Community, und wie wichtig sind uns diese Projekte? Die offizielle Vertretung, also die IGGÖ, hat oft ganz einfach kein Interesse an einer kritischen Selbstreflexion. Und gleichzeitig leben natürlich in einer Zeit, wo allein der Kampf um die reine Existenz, also dass wir als Muslim:innen in Österreich in Frieden leben können, schon so viel Energie nimmt, dass wir fast gar nicht den Luxus haben, über unsere Geschichte zu reflektieren. Ich sitze hier auf einer Terrasse an einer schönen, superreichen Uni und kann mir Gedanken machen. Aber wie viele Muslim:innen haben denn die Möglichkeit dazu? Wie viele haben das Privileg, frei zu denken oder gar die Stimme zu erheben?

Auch der deutsche Politologe und Lyriker Max Czollek war bei der Konferenz zu Gast. Er hat in seinem Beitrag kritisiert, dass die angeblich „abgeschlossene“ Bewältigung der NS-Geschichte in Deutschland heute dazu benutzt wird, andere Bevölkerungsgruppen auszuschließen. Und zwar ausgerechnet jene Gruppen, welche die Kontinuität der rechten Gewalt nach 1945 am meisten spüren. Würden Sie dem zustimmen? Auch mit Bezug auf Österreich? 

Hafez: Ich stimme dem definitiv zu und würde dem noch etwas hinzufügen. Wir haben in Österreich eine andere Geschichte und Gegenwart im Umgang mit dem Holocaust. Bei uns hat die Aufarbeitung des Holocaust und des Antisemitismus um Jahrzehnte später eingesetzt als in Deutschland. Und obendrauf waren wir in Österreich das erste aller westeuropäischen Länder, wo eine rechtsextreme Partei in die Regierung geholt wurde, im Jahr 2000. Alles vor dem Hintergrund, dass ein antisemitischer Diskurs im öffentlichen Raum und auch in der Spitzenpolitik immer weit verbreitet geblieben ist. Und heute haben wir – ähnlich wie in Deutschland – die Situation, dass Mitte-Rechts-Parteien und Rechtsaußen-Parteien das Gedenken an den Holocaust dazu verwenden, aus den Muslim:innen die „neuen Antisemit:innen“ zu machen.

Ich kann mich an keinen Krieg erinnern, wo die Welt über Social Media so zugeschaut hat, wie Menschen sterben. Die ganze Welt hat versagt.

Ich möchte Ihnen auch noch eine Frage zu den aktuellen Geschehnissen rund um den Gazakrieg stellen. Als Reaktion auf den Krieg haben sich protestierende Studierende in der ganzen Welt – ausgehend von den USA – an ihren Universitäten in „Camps“ versammelt, um ihre Unterstützung der Palästinenser:innen kundzutun. Gab es solche Proteste auch am Williams College, wo Sie zurzeit tätig sind? Und wie bewerten Sie selbst diese Form des Protests?

Hafez: Ja, es gab es auch hier am Williams College ein Protestcamp. Ich finde, die ganze Welt hat versagt. Ich kann mich an keinen Krieg erinnern, den wir so hautnah über soziale Medien mitverfolgen konnten und wo die Welt so zugeschaut hat, wie Menschen sterben. Und in so einer Situation braucht es Kritik. Ich würde mal sagen, man hätte sich wundern müssen, hätte es ausgerechnet von Studierenden keinen Protest gegeben. Dass die Studierenden aufgestanden sind, zeigt, dass es noch ein paar Leute gibt, die nicht komplett schulterzuckend auf dieses Versagen der Welt reagieren. Viele Menschen in den USA fühlen sich natürlich noch in einer besonderen Verantwortung, weil es ja ihr Land ist, dass primär die Waffen dieses Krieges finanziert.

Denken Sie, dass bei dem Krieg in Gaza auch Islamophobie vonseiten der israelischen Regierung eine Rolle spielt?

Hafez: Wenn ich mir vor Augen führe, dass [Israels Premierminister, Anm.] Benjamin Netanjahu kurz nach dem 7. Oktober gesagt hat, das wäre ein „Krieg der Kinder des Lichtes gegen die Kinder der Dunkelheit“, und wie sehr der Diskurs von Teilen der Rechten in Israel und eben auch von der Regierungsspitze die palästinensische Bevölkerung entmenschlicht, dann würde ich sagen: Ja, es ist sehr eng mit dem islamophoben Diskurs verbunden. Auch in der breiten Wahrnehmung wird dieser Konflikt nicht als ein Konflikt um ein Land wahrgenommen, sondern als ein Krieg „Israel gegen Hamas“. Indem man es auf einen politisch-religiösen Akteur reduziert, entpolitisieren und kulturalisieren wir in Wirklichkeit diesen Konflikt. Der religiöse Konflikt zwischen Judentum und Islam wird in den Vordergrund gerückt, dabei hat Palästina auch einen großen christlichen Bevölkerungsanteil. Der Konflikt um Land, Boden, Menschen und Ressourcen wird nicht in den Vordergrund gestellt, sondern kulturalisiert. 

Welchen Bezug  haben Sie zu Österreich, nachdem Ihnen hier dieses Unrecht widerfahren ist?

Hafez: Österreich ist mein Geburtsland. Österreich wird immer meine Heimat bleiben. Auch wenn ich mich kulturell und intellektuell in den letzten zehn Jahren immer mehr entfremdet habe. Aber am Ende des Tages lasse ich mir den Ort, von dem ich komme, nicht nehmen. Ich spüre da natürlich eine enorme Ernüchterung. Es ist nicht Ohnmacht, nicht Verzweiflung, sondern – ja – Nüchternheit. Eine Nüchternheit über den Konservatismus in Österreich, der mir wenig Hoffnung gibt, dass es bald zu Verbesserungen kommt. Was aber nicht bedeutet, dass sich Dinge gar nicht zum Besseren verändern können – aber es braucht sehr viel dazu.

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