KredoKritiken

Knochen überall

Warum tauchen bei der Tangente wiederholt menschliche Knochen auf? Und was haben sie mit unserer zeitgenössischen Erinnerungskultur, mit Kolonialismus und Technologie zu tun?

Text: Liese Schmidt

Irgendwas hat die Tangente mit Knochen. Was das sein könnte, versuche ich in diesem Text herauszufinden, und zwar anhand von verschiedenen Emotionen und Gedanken zu mehreren Programmpunkten des Festivals – dem Film „Nekropolis“, dem Audio Walk „The School of Mountains and Water“ und der Installation „Wasteland“. Was alles anhand von Knochen über Bestattungspraktiken, Spiritualität oder Pietät gesagt werden kann, führte mich schnell in ein überfordernd weites theoretisches Feld zur Geschichte des Erinnerns, zu Ökologie und zur Rolle von Mythologie in der Kunst, in dem es mir unmöglich war, nicht alles erklären zu wollen. Ein Versuch von Kohärenz.

Portale in die Vergangenheit

Am 11. Juli 2024 hatte der Film „Nekropolis“ im Rahmen der Tangente seine Premiere, der den Fund eines gigantischen Friedhofs direkt unter dem Domplatz St. Pöltens dokumentiert. Während der Ausgrabungsarbeiten, die einen römischen Palast freilegten, wurden über 22.000 Skelette gefunden – laut Eigenangaben das weltweit größte Bioarchiv an menschlichen Knochen an einem Ort. Auch wenn die Quantität der Funde am Domplatz andere Grabungen bei weitem übersteigt, ist das zufällige Freilegen von alten Friedhöfen keine Seltenheit. Häufig verzögern massenweise alte Knochen und Bauwerke den Bau von Tiefgaragen und Fundamenten. Ein Luftfoto zeigt vielleicht am deutlichsten die gespenstisch unsichtbare Anwesenheit der vielen Skelette unter unseren Füßen. Ein klaffendes Loch im Boden als Portal in die Vergangenheit:  

Der Domplatz von St. Pölten von oben
Der Domplatz von St. Pölten im Jahr 2012: Halb Markt, halb Loch. (Foto: Stadtmuseum St. Pölten)

Durch die große Menge an potenziellen neuen Daten wird von einer weltweit einzigartigen Möglichkeit gesprochen, neue Erkenntnisse über unsere Vorfahren zu gewinnen. Daten darüber, wie sich beispielsweise damals neue Krankheiten wie die Pest und die Cholera ausgewirkt haben, beeinflussen nicht nur, wie wir uns unsere Vergangenheit erzählen, sondern auch, wie wir mit unserer Gegenwart als zukünftiger Vergangenheit umgehen.

Monumentale Fotografien aus der Luft manifestieren dabei medial die Bedeutung von empirisch gesammelten Datensätzen, lassen aber auch schaudern. Denn die plötzlich aufgehobene räumliche Trennung zwischen Leben und Tod ist mit unserer Vorstellung von zeitlichen Abläufen schwer vereinbar. Die Abwesenheit von Knochen in unserer alltäglichen Wahrnehmung hat dabei historisch sowohl hygienische als auch Gründe der Totenruhe, führt aber häufig zu der Annahme, dass diese bereits verrottet und lange verschwunden sein müssten.

Dabei laufen wir natürlich die ganze Zeit über Knochen, nicht nur auf dem Domplatz in St. Pölten. Wir schwimmen und fahren auch über Knochen, über die vielen Toten des Sklavenhandels am Grund des Atlantik und über die Menschen, die auf der Flucht jetzt gerade täglich im Mittelmeer ertrinken. Beim Schwimmen im nahe der Glanzstoffabrik gelegenen Großen Viehofner See denke ich an die Toten des Zwangsarbeiter:innenlagers, das während des Nationalsozialismus an dieser Stelle existierte. Hier starben Hunderte Erwachsene und Kinder, viele noch auf dem Weg ins KZ gegen Ende des Kriegs. Direkt unter mir mag vielleicht auch noch ein Knochen liegen, der unsichtbar in der einst staubigen Ödnis der Kiesgrube vergraben liegt, deren Geröll die Zwangsarbeiter*innen abtragen mussten, um den Fluss zu begradigen und die Fabrik mit Elektrizität zu versorgen.

Fakt vs. Narrativ

Die Geschichte des Lagers, der Kiesgrube, der Fabrik und vor allem des Wassers, das alle diese Orte miteinander verbindet, wurde im performativen Audio-Walk „The School of Mountains and Water“ erzählt. Konträr zum Dokumentarfilm „Nekropolis“, der bereits in seinem Format Erinnerung als Datensätze und hard facts priorisiert, bot „School of Mountains and Water“ eine Perspektive auf Erinnerung, die unser Zusammenleben mit lebendiger Landschaft aus indigener Perspektive zentriert. Der Spaziergang erzählt von Wasser-Gottheiten und spirituellen Praktiken, durch die Lebensweisen weitergeben werden, welche die „natürlichen“ Räume nicht als Ressourcen ansehen, sondern als lebendige, wenn nicht sogar heilige Formen des Lebens. 

Beim Abschluss des Audio Walks durften in einer Zeremonie Blumen ins Wasser gelegt werden (Foto: Studio Fortuna)

Damit stehen diese Lebensweisen Kolonialismus und Extraktivismus entgegen und haben sich schon seit einer Weile auch medial als aktivistisches Gegenbild zu menschenverschuldeten Umweltkatastrophen und der Erzählung des „Anthropozäns“ manifestiert. Dieser Kontrast spiegelt sich auch in der Kunst wider. Künstlerische Arbeiten fallen häufig in zwei Lager: Auf der einen Seite werden die Menschen entfernt, um in meist hochästhetischen Drohnenaufnahmen das Ausmaß von Katastrophen und Zerstörung nahezubringen. Auf der anderen Seite finden wir Bilder von Protest, Mythologie und solche Perspektiven, die entweder Kapitalismus und Kolonialismus vorangehen und trotzdem existieren.

Der amerikanische Kunsthistoriker T. J. Demos weist in seinem Buch „Against The Anthropocene“1 darauf hin, dass die ästhetisierenden Drohnenaufnahmen, die ein Bild der technologischen Neutralität vermitteln sollen, häufig besonders in den Medien die Funktion erfüllen, die Hoffnung in Technologie weiter zu stärken. In dem Sinne, dass die Technologie, die die Katastrophe verursachte, sie auch wieder rückgängig machen kann. Dagegen stellt Demos Bilder von Protesten, die er mit Naomi Klein „Blockadia“ benennt: Menschliche Körper und ihr Leben, die sich gegen Extraktivismus stellen.

Mit „Nekropolis“ und „The School of Mountains and Water“ sehen wir aus dieser Perspektive vor allem zwei sich gegenüberstehende Arten der Erinnerung. Die eine zentriert den wissenschaftlichen Fortschritt, der uns erlaubt, Archive anzulegen, Daten zu sammeln und Vorhersagen zu errechnen oder zu treffen. Die andere betont Wissen als Praktiken des Erinnerns, das heißt Geschichte als das Erzählen von Geschichten: Die eigene Existenz ist im Mythos der Wassergottheiten immer eingebettet in die materiellen Zusammenhänge mit der Landschaft, dem Wasser und dem Wetter. Deshalb ist hier Mythos und Fakt, beziehungsweise Mythologie und praktische Information nicht voneinander trennbar.

Und mit dem Geschichtenerzählen, dem Worldbuilding und der Science Fiction erlebt die Kunstwelt nicht nur eine erhöhte Aufmerksamkeit auf indigene Praktiken, sondern auch auf Mythologie, das Magische und das Spirituelle generell. Das mündet derzeit in einem Trend zum Ausgraben von auch westlicher Mythologie, von Paganismus, Okkultismus und Astrologie: den Knochen der Moderne.

Die „mystische Methode“

In der Installation „Wasteland“ von Susanne Kennedy und Markus Selg wird so eine Welt zwischen Mythologie und Technologie gebaut. Wieder sind auf dem Gelände der Glanzstofffabrik Knochen zu finden. Zwischen den Tierknochen rund um einen paganistisch anmutenden Altar werden die herumliegenden Rohre und Schläuche, die alten Container, Asphaltteile und nackten Betonstützen zu den Knochen der Fabrik, liegengelassen und überdauernd.

Beide Materialien, Knochen und Beton, können je nach klimatischen Umständen Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren überdauern, mit einem Unterschied: Während Ruinen sichtbare Träger von Erinnerungskultur sind, werden Knochen meist außerhalb unserer täglichen Wahrnehmung gelagert und sind selbst in Museen viel diskutierte Ausstellungsstücke.

Namengebend für „Wasteland“ war das Gedicht „The Waste Land“ von T. S. Eliot, der in diesem Text eine Methode anwendete, die er selbst als „die mystische Methode“ bezeichnete: das Übereinanderlegen von zeitgenössischen Geschichten auf die Struktur einzelner früherer Narrative. Die „mystische Methode“ sei interessiert daran, wie zeitgenössische Geschichte sich mit einem Überschuss von Vorgeschichte reimen kann. Das beschreibt eigentlich auch haargenau das Vorgehen Selgs und Kennedys, die in ihrem mittlerweile schon Markenzeichen gewordenen Stil auf Theaterbühnen Welten erschaffen, die immer visuelle und inhaltliche Collagen von Mythologie und Internet-Kultur sind, die die Suche nach dem Lebenssinn thematisieren sowie das Leben als Simulation – oder auch als die Realität von virtuellen Räumen. Sätze wie „There is no exit to the loop“ erscheinen gerne auf LED-Panels, die auch hier die Übertitel für die Brache bilden.

Ein verfallenes Haus aus Beton
„Temple of the Sun“ nannte sich dieser Ort des Erfahrungsraum-Theaters „Wasteland“ von Susanne Kennedy und Markus Selg. (Foto: Benedikt Wolfsberger)

Selgs und Kennedys Arbeit zu Mythologie und dem Digitalen hat Bezüge zu einer Betrachtung des Digitalen als Fortsetzung einer Erinnerungskultur, die reale und imaginäre Architekturen nutzte, um anhand dieser Räume Geschichten und Wissen weiterzugeben. Darunter zählen sowohl landschaftliche Orientierungspunkte, imaginäre „Erinnerungspaläste“ und natürlich Grabstätten. Die letzteren sind auch das einleuchtendste  Beispiel für die Vermischung von praktischen und spirituellen Ansichten, die im christlich geprägten Raum im Konzept der Pietät vereint sind. Strömungen wie der Techno-Paganismus und seine Theoretiker*innen argumentieren häufig, dass wir digitale Räume nicht nur mit spirituellen Hoffnungen und magischen Praktiken anreichern, sondern dass generell die Visualisierung von Daten und digitalen Infrastrukturen aus einer magischen, d.h. hermetischen Tradition der Erinnerungspraktiken entsteht. 

Solche hermetischen Traditionen waren meist kosmologische Modelle, in welchen räumliche Bezüge zwischen göttlichen oder himmlischen Spähren, natürlichen Prozessen und spirituellen Imaginationen als Architekturen oder mathematische Geometrien und Symbole visualisiert werden. Programm-Icons, dreidimensionale Datenvisualisierungen oder die komplexen Strukturen von Wikis, Imageboards oder Foren verweisen nicht nur durch ihre Namen und geladenen Bildsprachen, sondern auch durch ihre Form auf diese Tradition. Besonders Memes sind ein gutes Beispiel für solche magischen, d.h. mit zeitspezifischen multiplen Bedeutungen geladenen Bilder. Durch diese nachweisbare Korrelation von Mystik/Magischem und der Strukturierung digitaler Daten, heben der Techno-Paganismus wie die Stücken von Selg und Kennedy auch ihre spirituelle Komponente hervor. Das mündet oberflächlich in digitalen Formen von magischen Ritualen, wie den „Manifestations“ auf Instagram oder Witch-Tok und ist auf einem tieferen Level mit einem spirituell aufgeladenen Optimismus gegenüber Technologie verbunden, der nicht nur einzelne Computer anbetende Techno-Paganisten betrifft, sondern unsere auf technologischem Fortschritt und Spekulation basierenden ökonomischen Systeme. Das Lagerfeuer, an dem sich an diesem heißen Tag in St. Pölten kaum Menschen versammeln, mag eine direkte Übersetzung von digitalen Geimeinschaftsräumen wie Wikis sein, die digital die mündliche Weitergabe von Erinnerung als Wissen fortführen.

no exit to the loop

Das „Totem und Opfer“. Unterhalb der Füße (aber wessen?) befindet sich bereits genannter Altar (Foto: Benedikt Wolfsberger)

Die „mystische Methode“ als künstlerische Methode erlebt seit einigen Jahren eine neue Welle der Popularität und hat sich besonders in den letzten paar Jahren im Mainstream verankert. Es mag durch die immer deutlicher werdende Insuffizienz von zeitgenössischen Narrativen wie dem „Anthropozän“ sein, dass Paganismus, Okkultismus und Spiritualität nicht mehr nur in der Counterculture zu finden sind. Besonders Versuche „Agency“ von Materiellem in unsere soziologischen, erkenntnistheoretischen und politischen Systeme zu integrieren, macht solche polarisierenden Konzepte wie den Animismus oder Okkultismus besonders fruchtbar als Kritik an Menschen- und Technologie-zentrierten Ansichten unserer Zeit. Dass die Wiederentdeckung der Magie ihre Popularität allerdings dekolonialer Theorie und indigenem Aktivismus verdankt, wird leider allzu häufig vergessen, und mit der Kommerzialisierung von Astrologie, Okkultismus und Paganismus wird die spezifische Geschichte dieser Bewegungen und ihrer Ambivalenzen häufig nicht benannt.

Im Falle von „Wasteland“ bleibt, trotz der vielen Referenzen und Zitate, so ebenfalls offen, um welche Rituale es sich hier genau handelt. Was ist der Loop? Wessen Knochen sind das und was ist ihre Bedeutung? Was ist die Mythologie genau, die wir im virtuellen Raum ausleben? Welche Formen von Erinnerung und der Weitergabe von Wissen sind im Internet wünschenswert und welche magischen oder religiösen Konzepte lungern als Ethik oder Fortschrittsoptimismus hinter der postulierten Rationalität des Wirtschaftsmarkts, der Finanzwelt, unseren politischen Systemen?

Diese Ungenauigkeit im Ausgraben von mythologischen Konzepten führt zu einem häufig leider rein visuellen Trend, der trotz teils fundierter Konzepte nur eine oberflächliche Kritik darstellt. Statt konkrete Geschichten zu erzählen wird damit dann lediglich gezeigt, wie ältere Glaubensvorstellungen oder alte Wissenschaft, die sich auf geringere oder keine wissenschaftliche Daten stützen konnte, immer noch quasi kollektiv unterbewusst unser Verhalten beeinflussen. Das wirkt sich dann gegenteilig zum gewünschten Effekt aus, weil damit die eigene Geschichte wieder als „primitiv“ und überholt abgegrenzt wird und und Wissen als die größtmögliche Menge von Daten erscheint. There is no exit to the loop.

zwischen den Lebendigen, den Knochen und der Landschaft

Knochen unter Glas im Stadtmuseum St. Pölten (Foto: Josef Vorlaufer/Stadtmuseum St. Pölten)

Wissenschaft hat ein unbestreitbar mythisches Datum, in denen Alchemisten und Astrologen als zeitlich undifferenzierte Ahnen des Fortschritts als Wissensakkumulation erscheinen. Auch im Titel „Nekropolis“ steckt dieses Erbe, durch den der mittelalterliche Friedhof mit antiken und frühgeschichtlichen Gräberfeldern – Nekropolen – und der aufregenden Ungewissheit von Geschichte ohne Aufzeichnung in Verbindung gebracht wird. Im Titel des Films ist damit in gewisser Weise die Entwicklung von landschaftlichen oder architektonischen Erinnerungsarchitekturen zu heutiger Archiv- und Museumskultur angelegt, also die Entwicklung vom Erzählen von Geschichten und Mythologien anhand von Denkmälern und Objekten hinzu der Abstraktion von Erinnerungen in Daten. Hier kommt dann die Ausstellung „Von Steinen und Beinen“ im Stadtmuseum in St. Pölten ins Spiel, ohne deren Vermittlungsarbeit die Daten unzugänglich bleiben. Aber auch das Museum als Ort von lebendiger/n Geschichte(n) fördert das Verschwinden derselben. Denn mittlerweile ist der Domplatz wieder verschlossen, ist die Kiesgrube geflutet und damit kann unsere Beziehung zur Landschaft nur durch die Fakten-basierte und räumlich getrennte Erzählung des Museums entstehen. Ganz zu schweigen von den vielen Raubkunst-Objekten in den europäischen Museen, deren Restitution nicht nur wegen ihrer gewaltvollen Geschichte erfolgen sollte, sondern auch, weil viele dieser Objekte eben in Traditionen und Rituale eingebunden sein sollten, die ihre Archivierung nicht vorsieht.

Was sowohl das Luftbild der St. Pöltener „Nekropole“ und „School of Mountains and Water“ gezeigt haben, ist, wie sehr Erinnerungen mit den Knochen und vor allem mit den Geschichten über sie in unserem Alltag verschwinden. Und damit verschwindet auch eine wichtige Komponente, die es uns möglich macht eine lebendige Beziehung zu Landschaft einzugehen, inklusive der urbanen. Ohne diese gegenseitige Beziehung werden einzelne Daten für die Zukunft bedeutungslos. Und ohne ihre Funktion und das praktische Wissen, das sie in sich tragen, werden Mythologien und ihre visuellen Repräsentationen bedeutungslos und die „mystische Methode“ bleibt ein metaphorischer Reim.

  1. T.J. Demos: Against The Anthropocene. Visual Culture and Environment Today, Sternberg Press, Berlin 2017 ↩︎
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