KritikenReportagen

Gibt es Leben unter dem Kulturapparat?

Wie die Autorin Cristina Morales sich zur Feindin der Tangente erklärte und sie damit rettete. Ein kurzer Bericht von der Eröffnung.

Text: Clemens Stachel, Fotos: Tangente / Joanna Pianka

War die Eröffnung der Tangente St. Pölten bereits Teil des künstlerischen Programms? Am Nachhauseweg fühlt es sich jedenfalls so an, als hätte man am Nachmittag des 30. April 2024 in der Bühne im Hof einem – obendrein wirklich sehr guten – Theaterstück beigewohnt. Es gab vier Akte, die einander perfekt ergänzten, die eine Geschichte des Festivals, der Stadt, der Landespolitik und der Kunstproduktion erzählten und die zum Nachdenken anregten. Unironisch gemeint.

1. Akt: Ein Bürgermeister und eine Landeshauptfrau werden auf der Bühne interviewt. Sie machen schnell und unmissverständlich klar, worum es ihnen bei einem Kunstfestival geht: „Kunst und Kultur“ als Motor für die regionale Wirtschaft. Die Tangente – „das größte Infrastrukturprojekt in St. Pölten seit der Landeshaupstadtwerdung“. Und am wichtigsten: Das Stadtzentrum und das Regierungsviertel sollen durch das Festival „endlich zusammenwachsen“.

2. Akt: Auf einem Videoscreen werden lustige Interviews mit echten, um nicht zu sagen authentischen St. Pöltner*innen von der Straße eingespielt.
„Was haben Sie von der Tangente bis jetzt gehört?“ – „Nix Guats!“
Die Selbstironie der Festivalmacher*innen steht dem Abend gut und zieht dem Politpomp der Auftaktviertelstunde gekonnt den Stöpsel.

3. Akt: Der künstlerische Leiter der Tangente, Tarun Kade, richtet den Fokus auf die unzähligen Menschen, die mit ihrer Arbeit und ihrer kreativen Energie dieses Festival ermöglicht haben. Seit zwei Jahren laufen die Vorbereitungen. „Die Tangente ist schon lange eröffnet“, sagt Kade. Der Applaus für die Riege der Kurator*innen ist der längste des Abends. Man spürt: Im Publikum sitzen ein paar Menschen, who know.

Die Autorin Cristina Morales während ihrer Eröffnungsrede

Ich bin nicht ihre Verbündete.
Ich bin ihre Feindin.

Cristina Morales, Eröffnungsrede

4. und letzter Akt: Die spanische Autorin und Tänzerin Cristina Morales hält eine Eröffnungsrede, die Pfeile in alle Richtungen schießt. Auch gegen die Rednerin selbst. Übrig bleibt ein klarerer Blick auf die Ambivalenz dieses Abends wie auch der ganzen Tangente.

Es überrascht mich, dass die Organisatoren der diesjährigen Tangente, die wir heute eröffnen, mich für ihre Verbündete halten.
Ich bin nicht ihre Verbündete.
Ich bin ihre Feindin.

Morales zitiert den anarchistischen Philosophen Agustín García Calvo. Die Macht, die in den westlichen Ländern früher vom Militär und von der Kirche ausging, sagt Calvo, stecke heute in der Kulturpolitik. Die Gewalt, sagen Morales und Calvo gemeinsam, sei aber noch immer dieselbe systemische wie vorher, sie werde nur unter dem Label der „Kultur“ verborgen. Das Zitat stammt aus den 1990er Jahren. Im Saal hallt es trotzdem nach.

Und all der Ambivalenz zum Trotz – oder zur Ehre – ruft uns Cristina Morales dazu auf, den Künstler*innen auf der Tangente unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Und die wahre Kultur jenseits von Marktlogiken zu entdecken:

García Calvo sagte, wir sollen nicht Kultur nennen, was die politischen und wirtschaftlichen Mächte Kultur nennen, denn das sei für diese nichts anderes als das wichtigste Instrument zur Disziplinierung der Bevölkerung. Doch unter diesem Kulturapparat ist etwas Lebendiges. Die von den Mächtigen nicht als solche bezeichnete Kultur ist ein Gemeingut, und daraus nähren sich die Künste. Ich lade Sie ein, sich mit Ihren gut kalibrierten inneren Thermometern den Künstlerinnen zu nähern, die bei dem Festival Tangente arbeiten; den Momenten Aufmerksamkeit zu schenken, in denen wir etwas sehen oder hören und denken, „das ist es, was ich vermitteln wollte, und ich wusste nicht, wie“. Wenn sich diese intime Ansprache ereignet, die uns mit einer gemeinschaftlichen Klarheit verbindet, dann ist Kultur. Alles andere ist Kulturindustrie, indoktrinierte Maschinerie, Rechtfertigung von Gehältern. Davon bin ich, davon sind viele wie ich entschiedene Feindinnen.

[Die Rede von Cristina Morales wurde von Friederike von Criegern ins Deutsche übersetzt. Eine gekürzte Fassung der Rede wurde in „Der Standard“ (30.4.2024) veröffentlicht.]


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