Kritiken

An Schauplätzen lebendiger Erinnerung

X-Erinnerungen, Route Süden: Drei Privatwohnungen, ein ehemaliges Kino, ein leerstehendes Pumpenhaus, ein Brettspielfachgeschäft, ein Hotelzimmer. Dazwischen viel heißer Asphalt, große Zufahrtsstraßen, aber auch Gärten voll Sommerflieder. So lernt man St. Pölten auf eine ganz andere Art kennen.

Text und Fotos: Carlotta Partzsch

Die Süd-Route von „X-Erinnerungen“ beginnt mit einer zehnminütigen Fahrradtaxifahrt. Vom Team der Tangente bekam ich einen Stadtplan, in den Stationen eingezeichnet sind und eine Flasche Wasser. Als mir der Fahrtwind ins Gesicht bläst, bin ich fast aufgeregt. Ich weiß, an welcher Klingel ich läuten muss, aber nicht, was mich danach erwartet.

Im Flur der ersten Wohnung werde ich mit Gesang begrüßt. Es gibt alkoholfreie Hibiskus-Ingwer-Shots. In der Küche lernen wir ein Ritual aus Ghana kennen. Nachdem die Performerin auf einem Teller Maniok, schwarze Bohnen und frittierte Zwiebeln mischt, nehmen wir uns jeweils einen Löffel, mit dem wir die rechts von uns sitzende Person füttern. Dazu gibt es mehr von dem Hibiskus-Ingwer-Getränk und kaltes Wasser. Es ist ungewohnt, jemanden Fremdes zu füttern, trotzdem ist die Situation berührend. Das Essen schmeckt sehr gut. Am Ende werden wir gefragt, welches Wort uns direkt in den Sinn kommt, wenn wir an Zuhause denken. Die Performerin erzählt, dass für sie „Sicherheit“ die zentrale Eigenschaft eines Zuhauses ist.

Als nächstes hören wir ein Konzert in einer Wohnung voller Pflanzen und erfahren die Geschichte von Scheherazade, der Erzählerin der Märchen von Tausendundeine Nacht. Dann sehen wir einen Zombiefilm im Vorführraum eines ehemaligen Kinos und eine Performance im Pumpenhaus der alten ÖBB-Höfe, bei der Gras zerschnitten wird.

Vor der nächsten Station, einem Mehrparteienhaus in einer Wohnsiedlung, stehen einige Bewohner:innen vor dem Haus. Als wir das Ziel erreichen, kommt gerade die Gruppe vor uns heraus. Die Bewohner:innen fragen uns, wohin wir wollen und auch, wie viel wir für die Tour bezahlt haben. Eine Frau ist sichtlich genervt von dem Trubel in ihrem Haus.

In der Wohnung ist es ruhig. Auf dem Boden im Flur ist eine grüne Linie, die entlang der Wand den Raum umrahmt. Sie ist beschriftet mit den Worten „Safe Zone“. Das Wohnzimmer hat einen roten Rahmen: „Dangerous Zone“. Ein Klebebandkreuz rastert die Fenster. Eine ukrainische Performerin erzählt uns, wie man sich während eines Luftangriffs am besten verhält. Sie klärt uns über die „Zwei-Wände-Regel“ auf: Bei einem Bombenangriff soll man sich hinter zwei Wände begeben, damit die zweite einen im Falle eines Einschlags vor dem Schutt der ersten Wand schützt. Wir erfahren, dass viele Ukrainer:innen seit mehr als zwei Jahren regelmäßig stundenlang in ihren Fluren oder Abstellkammern verbringen, um im Falle eines Einschlags möglichst sicher zu sein.

Der nächste Stopp führt uns in ein Gaming-Geschäft. Hier gibt es Brettspiele, Sammelkarten, Figuren, Merch und Zubehör. Im Hinterzimmer spielen zwei junge Frauen ein Brettspiel ohne Regeln, indem sie sich gegenseitig bekriegen, während Freiwillige aus dem Publikum Spielkarten mit absurden Anweisungen vorlesen.

Die letzte Station befindet sich in einem Hotel. Leider hat sich der Ablauf verzögert, und wir müssen warten, bis wir hereingebeten werden. Das Stück „Intimate Strangers“ funktioniert wie ein Werbetrailer für ein Service, bei dem Erinnerungen und Fantasien durch den Performer reproduziert werden, aber vom Wunsch der Zuschauer:innen abhängen. Alle Bewegungen und auch die Gegenstände im Raum sind durchnummeriert. Leider bin ich schon so müde, dass ich inhaltlich nicht ganz mitkomme.

Foto: Tangente St.Pölten/X-Erinnerungen

Überraschend war für mich, dass die Stücke nicht immer konkret mit der Geschichte Sankt Pöltens zu tun haben. Zum Teil kann ich den Bezug zum Titel des Events nicht ganz herstellen. Die extreme Hitze an den Veranstaltungstagen macht den Rundgang teilweise anstrengend, besonders wenn es zu längeren Wartezeiten zwischen den Stationen kommt. Diese Wartezeiten führen dazu, dass die Spannung und das Tempo der Erlebnisse manchmal unterbrochen werden, was schade ist, da es die immersive Erfahrung beeinträchtigt. Durch die Verspätungen sind auch häufig mehr als zwei Personen bei den Stationen, was die Intimität der Performances stark verändert. Außerdem ist es etwas irritierend, dass scheinbar die Bewohner:innen des Wohnhauses nicht gut über das Projekt informiert wurden.

Trotzdem schafft es „X-Erinnerungen“, sein Publikum in einen Bann zu ziehen. Zuschauer:innen haben die Möglichkeit etwas über verschiedene Lebensrealitäten – ob in der Ukraine oder in Sankt Pölten – zu erfahren, denn erinnern heißt auch, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen.

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