Interviews

„Wir müssen jetzt dranbleiben!“

Was bleibt von der Tangente? Ein Gespräch mit dem Kurator Andreas Fränzl. Er zieht erste Bilanz: Erfolgreiche Formate sollten fortgesetzt und gesammeltes Wissen weiter genutzt werden.

Interview: Josef Sommer

Andreas Fränzl hat sich nicht nur als vielseitiger Künstler – er ist Musiker, DJ, Zeichner und Grafiker – einen Namen gemacht. In St. Pölten ist er auch als Entwickler und Mit-Initiator von innovativen Kulturprojekten bekannt, allen voran des Künstlerkollektivs LAMES und des einzigartigen Natur- und Kulturortes Sonnenpark. Zudem ist Fränzl Gründungsmitglied der Vocal-Groove-Band Bauchklang und seit Jahren auch als Kurator tätig  – etwa für Parque del Sol oder Café Publik. Er engagierte sich von Anfang an für die Bewerbung St. Pöltens als Europäische Kulturhauptstadt. Im Rahmen der Tangente war er als Kurator für die Stadtprojekte zuständig.

KREDO: Ein von dir kuratiertes Projekt bei der Tangente ist die Stadt-Galerie, die Kunst in Schaukästen und Leerständen präsentiert. Was war Dir und der Jury bei der Auswahl der Künstler:innen und der Projekte wichtig?

Fränzl: Die Stadt-Galerie war eines jener Stadtprojekte, zu dem wir im Rahmen eines Open Calls sehr niederschwellig eingeladen haben mitzumachen. Von den 80 Einreichungen kamen zwei Drittel nicht von St. Pöltner Künstler:innen – darunter waren sehr viele professionelle Einreichungen vor allem aus Wien und Deutschland. Die Jury hat versucht ein gutes Verhältnis der Themen, aber auch zwischen lokalen Künstler:innen und überregionalen Beiträgen herzustellen. Lokale Künstler:innen wurden im Zweifelsfall bevorzugt. Unsere Kooperationspartner:innen Hippolyt & Töchter, New Design University (NDU) sowie die Künstler Ernest Kienzl und Hermann Fischl mit eingerechnet, hatten rund 70 Prozent der Künstler:innen einen Bezug zu Stadt.

Eine Menschengruppe steht vor einer beleuchteten Auslage
Andreas Fränzl (ganz links) erläutert beim Eröffnungsrundgang der Stadt-Galerie das Projekt „Souvenir: Tribute to Jo-Bi“ von Eva Kees. (Foto: eSeL)

Mussten denn die Werke inhaltlich mit St. Pölten zu tun haben?

Fränzl: Wir hatten einige Künstler:innen dabei, die bereits fertige Konzepte eingereicht haben ohne direkten St.-Pölten-Bezug – und die dann allerdings sehr gut gepasst haben. Ein Beispiel dafür ist Lisa Großkopf mit ihrem Fotostudio. Bei den meisten ist es uns aber gelungen, dass sie über den Sommer in der Stadt und zur Umgebung ihres Standortes geforscht haben. So hat sich zum Beispiel die aus Bregenz stammende und in Wien, Brüssel und New York lebende Fotografin Eva Kees für ihre Souvenir-Serie „Tribute to Jo-Bi“ intensiv mit der Geschichte des Kaufhauses Bichler und dessen Reklamen beschäftigt, die sie in den Vitrinen vorgefunden hat. Die Bühnenbildnerin Dimana Lateva hat zum Herrenhof geforscht und ein neues Werk daraus geschaffen. Oder der ursprünglich aus St. Pölten stammende Fotograf Vincent Wechselberger fotografierte junge St. Pöltner:innen aus der queeren Szene und hat sie im öffentlichen Raum in einer beeindruckenden Fotoserie sichtbar gemacht.

So viel Kunst im öffentlichen Raum haben wir noch nie in der Stadt gesehen.

Könnte die Stadt-Galerie eines jener Projekte sein, die es auch nach der Tangente geben wird?

Porträt von Andreas Fränzl
Der St.Pöltner Künstler Andreas Fränzl co-kuratierte für die Tangente die Stadtprojekte. (Foto: Konstantin Mikulitsch)

Fränzl: Das wäre ein großer Wunsch, da dieses Feld in St. Pölten durch die Vorarbeit von Hippolyt & Töchter und der NDU schon Tradition hat. Und auch ich beschäftige mich schon länger damit. Die „Stadt-Galerie“ ist wirklich gut angekommen – sowohl bei den teilnehmenden Künstler:innen als auch bei den Besucher:innen. Mit der Tangente als Unterstützer ist es gelungen, das Thema auf ein neues Niveau zu heben – ich wäre schon sehr enttäuscht, wenn man es nicht wieder aufgreifen würde. Es wird auch künftig genug Leerstand geben, und man würde mit diesem Projekt auch zur Aufwertung der Innenstadt beitragen. Kunst im öffentlichen Raum schaut ja nicht nur super aus, sie kann auch touristisch genutzt werden – etwa im Rahmen von Stadtführungen – und sie bringt die Leute zu den Leerständen, was auch für den Immobilienmarkt gar nicht so schlecht ist.

Ein weiteres Tangente-Format, das du als Kurator betreut hast, war das Musikfestival StadtLandFluss. Gehört es ebenfalls zu den Projekten, die weitergeführt werden sollten?

Fränzl: Absolut. StadtLandFluss hat ja bereits 2019 das erste Mal stattgefunden, und ich habe damals gemeinsam mit KulturhauptSTART das Programm gestaltet. Heuer war das Festival wieder eine Kooperation, es ist durch die Tangente größer und sichtbarer geworden. Und es war sicher das größte Tangente-Format in Bezug auf die Einbindung der lokalen Szene. Als Co-Kurator, der sich speziell mit Communityformaten beschäftigte, war auch Klaus Michael Urban vom Verein KulturhauptSTART mit dabei. Die Grundidee von StadtLandFluss ist es, Schnittstellen zu erzeugen, Verbindungen herzustellen, neue Räume und neue Synergien zu schaffen und gemeinsam ein Fest zu gestalten: Die politische Stadt trifft das politische Land, der Kulturbezirk und das Regierungsviertel treffen den Naturraum Traisen. Und dabei bespielen unter anderem lokale Künstler:innen Räume den für sie eher fremden Bezirk. Das beginnt bei der Bühne im Wasserbecken unter dem Landtagsschiff, geht über die Tiefgarage, die sich als perfekte, temporäre Club-Location bewährt hat, bis hin zum Klangturm, den wir in Kooperation mit IMA, dem Institut für Medienarchäologie, nach Jahren wieder aktiviert haben. Elisabeth Schimana hat hier ein spannendes Programm kuratiert. Den Turm – auch als Symbol – wieder zu bespielen, war wichtig für St. Pölten und das ganze Bundesland. Es wird übrigens spannend sein, nach weiteren Orten zu forschen, die man künftig bespielen könnte. Beispielsweise den Dachgarten auf der Landesbibliothek. Genau deshalb heißt es auch dranbleiben für uns Kulturschaffenden aus Stadt und Land, denn man kann jetzt keinen Rückschritt mehr machen.

Keine Rückschritte mehr zu machen – das gilt sicher für viele Facetten der Tangente-Zeit. Aber wie lautet dein persönliches erstes Resümee des Festivals? Mit welchen Schwierigkeiten hattet ihr als Kurator:innen zu kämpfen?

Fränzl: Die Tangente war in vielerlei Hinsicht ein Experiment. Denn zunächst musste man mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit die notwendigen Strukturen aufbauen. Später beschäftigten uns auch noch die Eruptionen, die der Abgang des künstlerischen Leiters Christoph Gurk verursacht hat. Das alles hat uns wertvolle Zeit gekostet, die uns in weiterer Folge abgegangen ist. Das hat unter anderem auch dazu geführt, dass wir eigentlich zu viele Programmpunkte hatten. Man hat es meiner Meinung nach mit der Dichte des Programms zu gut gemeint, was ich im Nachhinein ein bisschen schade finde, weil dadurch so manches zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Publikum hatte.

Die St. Pöltner*innen hatten sich teilweise etwas ganz anderes erwartet, als dann mit der Tangente gekommen ist.

Außerdem waren wir permanent mit einem sehr großen Kommunikationsbedarf konfrontiert. Zum einen mussten wir erklären, was die Tangente überhaupt ist und was wir unter dem Begriff Gegenwartskultur verstehen. Nach der Kulturhauptstadt-Bewerbung hatten sich die Leute teilweise etwas anderes erwartet, als mit der Tangente dann gekommen ist. Zum anderen mussten wir den Menschen neue, nicht alltägliche Formate näherbringen, was sicher nicht vollumfänglich gelungen ist. Es wäre sicher etwas einfacher gewesen, wenn man noch mehr auf Formate aufgebaut hätte, die es schon vorher gab – wie etwa das partizipative Bürger*innentheater am Landestheater Niederösterreich. Oder man hätte das Programm auch auf zwei oder drei Jahre verteilen können, statt alles im Jahr 2024 unterzubringen.

Darüber hinaus hätte man mehr lokale Multiplikator:innen früher einbauen können, um noch besser in Verbindung mit der Stadt zu kommen. Im letzten Drittel der Tangente ist das dann verstärkt passiert. Es war jedenfalls für alle Seiten viel „Learning“ dabei, und dies gilt es jetzt in die nächsten Projekte mitzunehmen. St. Pölten ist erstmals in dieser Dimension und Qualität auf der österreichischen und auch europäischen Kulturlandkarte aufgetaucht. Viele Besucher:innen waren zum ersten Mal in St. Pölten und haben die Stadt entdeckt. So viel Kunst im öffentlichen Raum haben wir noch nie in der Stadt gesehen. Es gab tolle Kunst-Produktionen, teilweise auch an ungewöhnlichen neuen Orten, und auch gänzlich neue Möglichkeiten für die Kulturszene.

Jetzt wird sich weisen, ob dieses große Bekenntnis zu Kunst und Kultur auch längerfristig Bestand hat. Wünschen würde ich es mir! Stadt, Land, die Kunst- und Kulturszene sollten jetzt im Gespräch bleiben, kritisch nachbetrachten und mit dieser Erfahrung die nächsten gemeinsamen Schritte planen. Sich die Zeit für die gemeinsame Reflektion zu nehmen, ist unumgänglich, bevor es weitergeht.

Andreas Fränzl (mit Kappe) vor den Wandgestaltungen der „Visionale“ an der Promenade beim 2. TangenteStraßenfest im September 2024. (Foto: Nathan Murrell)

Welche Aspekte und Entwicklungen der Tangente werden oder sollen bleiben?

Fränzl: Ich bin selbst Künstler, beschäftige mich seit über 30 Jahren mit großer Leidenschaft mit Kunst und Kultur, und ich war bereits in der Bewerbungsphase für die Europäische Kulturhauptstadt dabei. Mein Anliegen ist daher logischerweise, dass möglichst viel für St. Pölten bleibt. Es wäre naheliegend, dass einzelne Formate weitergeführt oder auch weiterentwickelt werden. Man könnte durchaus wieder ein ähnliches Festival – in einer etwas kleineren Dimension – veranstalten.

Was von der Tangente bleiben soll, sind vor allem die neu erschlossenen Orte in der Stadt.

Besonders wichtig ist mir in diesem Zusammenhang aber, dass man die Räume und Orte, die im Zuge der Tangente für Kultur erschlossen wurden, weiterhin bespielt. Das ist einerseits der öffentliche Raum, insbesondere die Innenstadt und das Regierungsviertel, andererseits aber auch der Naturraum Mühlbach/Traisen. Man hat beispielsweise gesehen, wie die Promenade zu einem Ort der Kommunikation wird, wenn man großflächige Kunst an Hauswänden zulässt oder Kunstwände aufstellt, die das Stadtbild bereichern. Hier spielt auch in direkter Form Stadtentwicklung mit Kunst und Partizipation der Bevölkerung zusammen. Oder man hat gesehen, wie der Sonnenpark im Zuge der Klimakonferenz Tipping Time zu einem Ort des Diskurses für die Zivilgesellschaft wurde.

Wichtig ist außerdem, dass die teils internationale Vernetzung, die aufgebaut wurde, aufrechterhalten wird. Es sind ja wirklich herausragende Künstler:innen nach St. Pölten gekommen, die ein tolles Programm geliefert haben. Nicht zuletzt sollte das wertvolle Wissen, das unter anderem im Rahmen der Community-Projekte ausgetauscht und gesammelt wurde, weiter genutzt und in künftige Prozesse reingeholt werden. Tangente-Kurator:innen wie Muhammet Ali Baş oder Magda Chowaniec, die einen fruchtbaren Austausch unter anderem mit migrantischen St. Pöltner:innen hergestellt haben und insgesamt sehr wertvollen Input geliefert haben, sollte man auf jeden Fall wieder einladen und involvieren – ganz im Sinne von „Wege fortsetzen“. Zusammengefasst: Was bleiben soll, sind nicht nur Formate, sondern auch Orte, Wissen und Personen.

In welche Richtung wirst du dich als Künstler nach dem Abschluss der Tangente bewegen?

Fränzl: Ich hatte – neben den Projekten, die ich kuratierte – bei der Tangente auch eine Schnittstellenfunktion inne, musste auch so manches in Richtung Stadtbevölkerung und Szene „übersetzen“, möglichst vieles verbinden. Diese Aufgabe, einhergehend mit der Verantwortung, war ziemlich herausfordernd, und ich hatte daher kaum Zeit für meine eigene künstlerische Tätigkeit. Ich freue mich, dass ich mich jetzt auch wieder verstärkt meiner Kunst, sei es der bildenden Kunst oder der Musik, widmen kann und auch wieder mehr Zeit für den Sonnenpark, meine „Base“, habe. Trotzdem sehe ich mich nach wie vor als Gestalter und Kurator und würde gern einige der von mir mitentwickelten Formate und Veranstaltungen weiterführen.

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