Kritiken

Programmiertes Provozierenlassen mit „Justice“

Warum kann Oper so provozieren? Und das, obwohl Milo Raus Kalkül des Konflikts längst bekannt ist?

Text: Liese Schmidt
Foto: Tangente / © eSeL.at – Joanna Pianka

„Das ist die schrecklichste Musik, die es gibt!“, kommentiert ein Zuschauer in der Reihe hinter mir lautstark. Während der zweistündigen Vorstellung von „Justice“ am zweiten Festivaltag der Tangente drehen sich mehrmals Menschen nach ihm um: Schhh! Ja, Hèctor Parra ist nicht Puccini, hier kann man nicht mitschwingen, und das hätte man vorher wissen können. Zudem hat das Festspielhaus St. Pölten abgesehen von den Pop- und Avantgarde-Programmpunkten der Tangente diesen Sommer noch Mahler im Programm, Ravel, Volksmusik und Bernstein – zum Mitschwingen. Und auch wenn das eigene Verhalten in Oper, Theater und klassischem Konzertsaal teilweise aggressiv penibel durch die Sitznachbar*innen reglementiert wird, nerven laute Kommentare natürlich besonders dann, wenn Thema und Text so emotional und mitunter schockierend sind wie in „Justice“. Aber eigentlich wäre dieser Moment ja kaum erwähnenswert. Irgendwas stört doch immer und irgendwem gefällt es eben nicht. Es scheint sich hier im Festspielhaus aber ein Konflikt um Milo Raus vermeintliches Kapern des Formats Oper selbst zu manifestieren. Und der Konflikt als Markenzeichen Milo Raus schlägt sich auch in den Medienberichten nieder.

Das Echte direkt auf die Bühne

Gesprochen wird beispielsweise über die Frage, warum es denn überhaupt Oper sein musste (eine Frage, die Milo Rau unter anderem im aufschlussreichen Interview mit den KREDO-Redakteurinnen Felicia Schätzer und Alara Yılmaz selbst beantwortete), über die Frage, was zeitgenössische Oper sein darf oder sein sollte, wie sie klingen muss, um dem Label Oper noch gerecht zu werden, oder über die alles überschattende Frage nach der richtigen Darstellung von Gewalt in der Kunst. Eine Frage, die dem Stück eigentlich schon vorausging, die unmittelbar an die Person Milo Rau gebunden scheint, der mit seinen Stücken immer Theaterkonventionen aufbricht, indem er politische Themen anhand von dokumentarischen Erzählungen und unter Einsatz von schockierenden, teilweise Tabus brechenden Fotos, Videos und Szenen auf die Bühne bringt. 

Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne eines Theaters
Librettist Fiston Mwanza Mujila und Komponist Hèctor Parra (vorne in der Mitte) bedanken sich am Eröffnungsabend der Tangente für den Applaus.

Sicherlich sind Parras Musik und auch die Oper als solche nicht die zugänglichsten Formate. „Justice“ fällt aber, wie vielerorts bereits berichtet, deutlich milder aus als andere Stücke Raus und ist durch Videoelemente, einfach formulierte deutsche Übertitel und viel Sprechtext zugänglicher als so manche Puccini-Inszenierung. Dass sie uns durch Bilder, Text und Inhalt emotional trifft und aufrüttelt, steht außer Frage und ist die unumstrittene und viel gelobte Qualität des Projekts. Darüber hinaus schafft „Justice“ es aber, wie intendiert, im Festspielhaus zu provozieren. Warum? Vielleicht wollen wir uns provozieren lassen. Vielleicht ist die Provokation aber auch durch Programmplanung und Marketing so unweigerlich angelegt, dass es teils schwierig wird, über etwas anderes zu sprechen.

Szenenreihen des Neokolonialismus

Das Zeigen dessen, was echt ist, ist der Kern von Milo Raus Praxis, und auch in „Justice“ finden wir wenig dramaturgischen Bogen und eigentlich keine Charakterentwicklung. Stattdessen sehen wir einzelne Szenen, in denen die Sänger*innen nach vorne treten und berichten: von Tod, Trauer und Gewalt, die einen systemischen Ursprung hat, an dem die meisten im Publikum mitverantwortlich sind (siehe die Interviews mit Milo Rau und Librettist Fiston Mwanza Mujila). Teils sehen wir die tatsächlich Betroffenen im Video, teils werden die Stimmen in den fast schon archetypischen Rollen „die trauernde Mutter“, „der Priester“, „der CEO“, „der Mann, der seine Beine verlor“, etc. von Sänger*innen verkörpert, die selbst einen biografischen Bezug zum Kongo oder zu Kolonialgeschichte und Rassismus aufweisen. Stattdessen wird der Unfall in seinen ethisch-ökonomisch-politischen Verstrickungen aufbereitet, und es werden die bisher nicht oft und öffentlich genug diskutierten Verantwortlichkeiten klargestellt. 

Es ist dann eine der eigentlichen Ambivalenzen des Abends, dass die Gewaltdarstellungen auf der Bühne, die in ihrer Form tradierte Darstellungen von Gewalt an schwarzen Körpern reproduzieren, im Kontrast stehen zu Nachhaltigkeit und Relevanz des Projekts. Dass das Projekt rund ums Stück wichtiger wird als das Stück selbst. Das Projekt – das ist, dass die größtenteils POC-Künstler*innen in der europäischen Oper einen Stoff aufführen können, der sonst nicht an europäischen Theatern gespielt wird; dass denen eine Stimme gegeben wird, die unter Neokolonialismus und Extraktivismus leiden, in den ehemaligen Kolonialländern wie in den heutigen Neo-Kolonialmächten; dass die Oper nicht nur eine Inszenierung ist, sondern eine tatsächlich nachhaltige Zusammenarbeit mit denjenigen, deren Geschichte hier erzählt wird, durch vorangehende und begleitende Projekte und Kampagnen – wie das Kongo-Tribunal und die zum Stück gleichzeitig gestartete Crowdfunding-Kampagne „Justice for Kabwe!“.

Vier Menschen sitzen an einem Podium vor Mikrofonen
Sänger Serge Kakudji, Regisseur Milo Rau, Juristin Céline Tshizena und Komponist Hèctor Parra (von links nach rechts) sprechen im Festspielhaus St. Pölten über die Hintergründe der Produktion „Justice“.

Die Tangente als Provokateurin

Wäre „Justice“ anlässlich der Eröffnung der Tangente nicht im Kontext Oper vor das Publikum getreten, sondern, sagen wir, als dokumentarisch-aktivistisches Kunstprojekt oder auch als Konzert, wage ich zu behaupten, die Reaktionen wären andere gewesen. Aber es hätte eben auch seine provokative Kraft verloren. Und das scheint erstaunlich wichtig für die Tangente, die sich gerne als auch unbequemes, aber dadurch umso relevanteres Festival verstehen will. So vermarktete sie „Justice“ im Vorfeld unter dem Spruch „Erwarte das Unerwartete“ leicht vereinfachend als eine „Oper für Gerechtigkeit aus dem Kongo“. Und sie profitiert sicher auch von der derzeitigen Medien-Aufmerksamkeit für Milo Raus Intendanz bei den Wiener Festwochen. Das ist eine große Geste für ein sonst in seinen Formaten sehr diverses Programm und löst damit die gewünschte Reaktion aus: Wir lassen uns provozieren. Je nach Blickrichtung von der ungewohnten Musik, von einer der Operntradition nicht gerecht werdenden Inszenierung oder vom Format Oper selbst als der erstaunlich konservativen Basis für das Projekt.

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