Wie können Trauer und Verlust, die sich Beschreibungen und universellen Bildern verwehren, dargestellt werden? Dieser Frage geht „Assembly Hall“ nach, die vierte Zusammenarbeit von Choreografin Crystal Pite und Theatermacher und Autor Jonathon Young. Bereits mit ihrem ersten gemeinsamen Stück „Betroffenheit“ hatten sie sich einer persönlichen Geschichte des Verlusts und der Möglichkeit zur Verarbeitung von Trauer genähert. „Assembly Hall“ ist ein durch und durch unkonventionelles Stück Tanztheater, das ab dem ersten Moment überrascht und berührt. Es ist zugleich lustig und zutiefst traurig, ein überzeichnetes mittelalterliches Comedy-Spektakel mit ernstem Kern und beeindruckender zeitgenössischer Choreografie.
Text: Liese Schmidt
Unkonventionell ist schon mal die formale Grundlage des Stücks, das sich zwischen Theater und Tanz befindet und jede Menge Handlung beinhaltet. Die Handlung wird vorrangig durch einen vorab aufgezeichneten Dialog zwischen den Figuren vorangetrieben, der durch aufwändiges Sound Design, das solche Faktoren berücksichtigt wie den Unterschied im Hall in verschiedenen Räumen und Distanz, fast ein eigenes Hörspiel sein könnte. Die Tanzenden bewegen die Lippen und gestikulieren so groß, überschwänglich und eben sehr tänzerisch zu dem Dialog, als seien sie Zeichentrick-Versionen ihrer selbst. Das passt gut zum Audio, das im Stil an amerikanische Sitcoms erinnert.
Meet the Family:
Die Protagonisten, wie Chairman Woody, Treasurer Bonnie und Underdog Dave, sind die acht Mitglieder eines Mittelalter-Reenactment-Vereins, der sich natürlich nicht „Verein“ nennt, sondern „The Benevolent and Protective Order“. Und dieser Orden ist gespalten, denn die eine Hälfte will den Verein auflösen und die andere ihn erhalten. Um diese Abstimmung und den drohenden Verlust der „Assembly Hall“ sowie um das nahende „Quest Fest“ geht es in der Vereinssitzung, die in einem Bühnenbild einer Art Sport- und Theaterhalle durch die Tagesordnung springt.
Beeindruckend choreografiertes Spektakel
Die Sitzung wird auf der Bühne allerdings immer wieder unterbrochen von plötzlich einsetzender filmisch-epischer Musik und prompt ausbrechenden Kämpfen zwischen den Charakteren. In nach wie vor großen Tanzgesten und sich immer wieder verändernden Bildern, die besonders auf der kleinen Bühne-auf-der-Bühne an tableaux vivants denken lassen, erscheinen Schwerter und Lanzen, Rüstungen und Schilde.
Unter dem gezielten und immer nur kurzen Einsatz von Genremusik erstechen sich die Protagonist*innen mit ihren Lanzen in technisch beeindruckenden, schönen und eleganten Choreografien des Ensembles, das mal die eine, mal den anderen heraushebt. Deshalb ist „Assembly Hall“ kein Mittelalter-Klamauk, obwohl es natürlich gerade wegen der Schwerter, Rüstungen und Kerzenleuchter so viel Spaß macht. Die Prise Camp, die völlig ungehemmt historische Gemälde, Historien- und Fantasyfilme zitiert, bricht den Zauber des Tanzes nicht, sondern lässt ungehemmt mitfühlen und mitstaunen, während das Ensemble die komplexe und immer wieder überraschende Choreografie scheinbar mühelos tanzt.
Durch die Übertreibung zu den Gefühlen
Eine Konstellation jedoch scheint unvermeidlich: Immer wieder stirbt der Charakter, der Dave genannt wird, in den Armen der ewig Trauernden. Jede Abstimmung, jede Kaffeepause und jede mittelalterliche Schlacht mündet in dieser Pietà. Genauso landet auch der Dialog immer wieder in Spiralen bei dem eigentlichen Thema des Abends: die schmerzende Abwesenheit von jemanden und die Frage, wie es weitergehen kann.
Mit der Planung des „Quest Fest“ nehmen die Mittelalter- und Fantasy-Episoden im Lauf des Abends immer mehr Platz ein. Das Ziel der „Quest“, die verfluchte Vereinssitzung aus ihrer mystischen Verdammnis zu befreien, wird zu Daves Aufgabe, die sich, wie auch die Abstimmung zur drohenden Auflösung des Vereins und wie vielleicht auch der Weg aus der Trauer, als scheinbar unlösbar herausstellt. Immer wieder führt Daves Suche in Kämpfe, die wiederum in seinem eigenen Tod enden, in seiner wiederholten Abwesenheit.
Nach einigen Wiederholungen dieser Abfolgen entfaltet sich an dieser Stelle hinter dem ganzen Sit-Com-Humor – und durch ihn – die sehr berührende Qualität des Stücks. Durch den Witz und die viel zu groß scheinenden Emotionen scheint eine echte große Trauer, die vielleicht erst durch ihre Übertreibung, die Romantisierung und Genre-fizierung greifbar werden kann.