Bei der Tangente-Konferenz Erinnerungsbedarf hatte Martha Keil ein Ziel: Sie wollte das Publikum begreifen lassen, dass das Gedenken an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus nicht nur einen pluralistischen, sondern auch einen großen solidarischen Wert hat.
Text: Josef Sommer
Fotos: Josef Sommer, NÖ Museum Betriebs GmbH/Daniel Hinterramskogler (2)
Martha Keil ist wissenschaftliche Leiterin sowohl des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest) als auch der Ehemaligen Synagoge St. Pölten. Für die Tangente St. Pölten ko-kuratierte sie Erinnerungsbedarf, eine zweitägige „Konferenz zum pluralen Erinnern in Migrationsgesellschaften“. Wer Martha Keil zuhört, sei es in ihrer Rolle als Vortragende, als Moderatorin oder als „Tourguide“, erkennt bald: Im Bereich der Erinnerungs- und Gedenkarbeit in Österreich hat sie schon alles erlebt – nichts würde sie deshalb weniger überraschen als Widerstand gegen ihre Arbeit. Dies wird deutlich, als sie am zweiten Konferenztag die Teilnehmer*innen auf einen Rundgang zu Erinnerungs- und Gedenkspuren der vernichteten und vetriebenen jüdischen Gemeinde St. Pöltens mitnimmt.
NS-Verbrechen sichtbar machen
Der Weg führt uns zunächst zu einigen Steinen der Erinnerung. Im Rahmen dieses Injoest-Projekts werden 18 x 18 Zentimeter große Messingplatten mit Namen, Geburtsdatum, Datum der Deportation und – wenn eruierbar – Todesdatum von St. Pöltner Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im Gehsteig vor deren letzter Wohnadresse eingelassen.
Bei der Umsetzung des nach wie vor laufenden Projekts – Ziel ist es, Erinnerungssteine an allen etwa 80 St. Pöltner Adressen und weiteren im Einzugsgebiet der früheren Kultusgemeinde zu setzen – sei eine gewisse Hartnäckigkeit vonnöten, berichtet Keil: „Die Stadt war nicht prinzipiell dagegen, hatte aber anfangs wegen des früher verwendeten Begriffs Stolpersteine Sicherheitsbedenken.“ Die Steine werden nämlich allesamt auf öffentlichen Grund gesetzt, weil manchmal auch Hauseigentümer*innen Widerstand leisten. Meist deswegen, weil sie nicht mit dem Thema Arisierung in Verbindung gebracht werden wollen, obwohl es in den wenigsten Fällen eine Eigentumskontinuität bis ins Jahr 1938 gibt. „Aber auch das kann man ausräumen, wenn man mit den Menschen redet“, betont Keil.
Gegen die Gleichgültigkeit
Dass dem Projekt aber auch oft Gleichgültigkeit und Nichtachtung entgegenschlägt, wurde den Teilnehmer*innen des Rundgangs, darunter auch Keils Ko-Kurator Muhammet Ali Baş, in der Rathausgasse vor Augen geführt. Ein großer Pflanzentopf eines Schanigartes war direkt auf den Steinen der ermordeten Elisabeth Lang (geb. Hirschler), Lucy Herta Lang, Juliane (Julie) Steiner (geb. Bachrach) und Leopold Gelb platziert. Die Steine wurden jedoch von einigen Teilnehmer*innen umgehend sichtbar gemacht und gereinigt.

Das Putzen sämtlicher besuchten Messingplatten war ein bewusst gewählter Akt der „Erinnerungspflege“ bei diesem Rundgang. Übrigens kann sich jeder St. Pöltner und jede St. Pöltnerin bei den Steinen der Erinnerung beteiligen – entweder durch eine finanzielle Patenschaft oder eben durch eine Pflegepatenschaft mit regelmäßiger Reinigung von bestimmten Steinen und dem Melden von Beschädigungen.
Der Rundgang endete in der frisch renovierten und vor wenigen Wochen neu eröffneten Ehemaligen Synagoge, wo Martha Keil einerseits über die Gewaltgeschichte des Gebäudes sprach und andererseits durch die von ihr kuratierte Dauerpräsentation auf der Frauenempore führte. Die Ausstellung widmet sich der Geschichte der jüdischen Gemeinde und dem Gedenken an ihre Mitglieder. Zu sehen gab es auch die derzeit laufende erste Wechselausstellung Dinge bewegen. Gegenstände und ihre jüdischen Geschichten. Sie vermittelt anhand von sieben Gegenständen die äußere und innere Bewegung von Dingen, deren jüdische Besitzer*innen von den Nationalsozialist*innen verfolgt und vertrieben wurden und die somit Zeugen von Gewaltereignissen wurden.

Solidarischer Erinnerungswert
Am Nachmittag folgte unter dem Titel Erinnerungsbedarf und Gedenkbedürfnis jener Teil der Konferenz, der von Martha Keil kuratiert und moderiert wurde. In diesem Rahmen diskutierten Vertreter*innen und Forscher*innen unterschiedlicher Communitys von NS-Opfern (Kärntner Slowen*innen, Zwangsarbeiter*innen, Gehörlose, Romnja und Roma sowie Zeug*innen Jehovas), die von öffentlichen und kollektiven Gedenkritualen in Österreich noch immer weitgehend ausgegrenzt sind. Die also „Erinnerungsbedarf“ hätten. Oder „Gedenkbedarf“, wie Martha Keil nachschärfte.
Mit den Opfergruppen, die in den einzelnen Beiträgen thematisiert wurden, habe sie sich auch selbst wissenschaftlich beschäftigt, bekräftigt Keil: „Bis auf die Geschichte der Gehörlosen, die war mir weitgehend unbekannt. Der Beitrag von Lukas Huber war wirklich ein ausgezeichneter Input.“ Darüber hinaus habe sie gelernt, dass man einer Hierarchisierung von Opfergruppen – auch wenn die jüdische im Vergleich riesengroß sei – entgegenarbeiten müsse: „Hier sollte niemand anfangen aufzurechnen, gerade nicht die größeren Gruppen, die in der Gunst der Politik stehen.“
Deswegen sei es wichtig gewesen, dass die Tangente den unbeachteten oder sogar ausgegrenzten Gruppen eine Plattform geboten habe. „Das Ziel ist ein gemeinsamer, aber eben nicht nur pluraler, sondern auch solidarischer Erinnerungswert. Das Recht auf Gedenken und Erinnerung, das ja alle haben, als gemeinsames Anliegen über das Trennende zu stellen, ist ein ganz wichtiger Aspekt.“
Zentrales Mahnmal fehlt
Gibt es also aus Martha Keils Sicht noch verstärkten Bedarf an Erinnerungsarbeit vor Ort, insbesondere von offizieller Seite, also von der Stadt St. Pölten und dem Land Niederösterreich? Vor allem in Bezug auf die Shoa, also die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, sei bereits sehr viel an Gedenkarbeit geleistet worden, bestätigt Keil. Als Beispiel erwähnt sie hier die erste Renovierung der St. Pöltner Synagoge im Jahr 1984, also zu einer Zeit, wo andernorts ehemalige Synagogen noch abgerissen wurden – wie es etwa in Krems im Jahr 1978 geschah. Außerdem verweist sie auf eine Vielzahl von Arbeiten engagierter Forscher:innen unter anderem auch im Rahmen des Injoest.
Andere Opfergruppen würden zwar zum Teil noch erheblich vernachlässigt werden, aber auch hier ortet Martha Keil positive Aktivitäten und nennt in diesem Zusammenhang die niederösterreichische Landesausstellung 2026 Wunder Mensch. Psychische Gesundheit im Wandel der Zeit im Landesklinikum Mauer. Ein Teil der Ausstellung wird sich mit dem grausamen Euthanasie-Programm des Nazi-Regimes beschäftigen, darüber hinaus wird in Mauer eine Dauer-Gedenkstätte für die Opfer der NS-Medizinverbrechen errichtet.
Was allerdings immer noch fehle, so Keil, sei ein zentrales Mahnmal für alle jüdischen Opfer aus Niederösterreich. „Dafür brauchen wir einen zentralen Ort. Angemessenen wäre zum Beispiel der Platz vor dem Landtag im Regierungsviertel oder der Rathausplatz in St. Pölten.“ Und es gebe auch noch immer Diskussionen mit einigen Gemeinden und Institutionen, die es laut Keil ablehnen, ihrer Opfer zu gedenken.
Antisemitismus heute
Auf die Frage, ob diese Ablehnung auf einen tiefersitzenden, strukturellen Antisemitismus oder Rassismus in Österreich zurückzuführen sei, antwortet Martha Keil mit Anekdoten ihrer Forschungsarbeit: „Noch in den frühen 1990er Jahren ist mir der Zutritt zu manchen Archiven verwehrt worden mit der Begründung ‚Es ist nichts da‘. Das war natürlich falsch. Es gab fast keinen Nazi-Raub, der nicht detailliert dokumentiert wurde. Aber ob solche Abweisungen auf eine inoffizielle ‚Order von oben‘ oder auf die Eigenmächtigkeit von Archivleitungen zurückzuführen waren, kann ich nicht beuerteilen, das wären zum Teil sicher Unterstellungen. Daher würde ich nicht von strukturellem Antisemitismus sprechen. Man kann die Frage aber offen lassen“.
Tipp: Wer die Beiträge der Konferenz über die Romnja und Roma, die Kärntner Slowen*innen, die Zwangsarbeiter*innen, die Gehörlosengemeinschaft in St. Pölten und die Zeug*innen Jehovas in komprimierter Form nachlesen will, dem sei die Publikation Erinnerungsbedarf Gedenkbedürfnis aus der Zeitschriftenreihe Juden in Mitteleuropa (Ausgabe 2024), empfohlen, herausgegeben vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs: www.injoest.ac.at