Erinnern ist Arbeit. Und Vergessen oft ein Teil davon. Ein Doppel-Interview mit den Autoren Marko Dinić und Ralph Tharayil.
Interview: Felicia Schätzer
Laut Ralph Tharayil ist Erinnern Arbeit. Wichtige Arbeit, schwierige Arbeit. Arbeit, die sich nicht von selbst erledigt, aber erledigt werden muss, damit es alle in unserer Gesellschaft schön haben. Und dabei ist „schön“ wahrscheinlich schon eine Utopie. Dieser und viele weitere Gedanken zum Thema Erinnerung wurden am ersten Juniwochenende 2024 in St. Pölten diskutiert. „Erinnerungsbedarf“ hieß die „Konferenz zum pluralen Erinnern in Migrationsgesellschaften“, die den zweiten Festivalschwerpunkt der Tangente St. Pölten einleitete. Die zweitägige Veranstaltung machte in erster Linie Platz. Platz für meist unerzählt gebliebene Erinnerungen marginalisierter Gruppen.
Im Anschluss an eine Lesung, die Teil der Konferenz war, habe ich mich mit den zwei Schriftstellern Marko Dinić und Ralph Tharayil über ihre Rolle als „sich erinnernde Schreibende“ unterhalten. Welcher Stoff für Geschichten ergibt sich aus der individuellen Erfahrung? Wie soll man damit umgehen? Wer erinnert sich eigentlich woran? Und woran nicht? Und wie bringt man die Geschichte denen nahe, die selbst kein Teil davon waren?
Stadtspaziergänge und Stolpersteine
2019 erzählte Marko Dinić in seinem bei Zsolnay erschienenen Debütroman „Die guten Tage“ von den täglich zwischen Wien und Belgrad verkehrenden „Gastarbeiterexpress“-Bussen. Nun stellte er auf der Tangente-Konferenz einen Text über den fiktiven Protagonisten Petar vor, der 1942 einen Spaziergang durch ein Viertel Sarajevos unternimmt. Bestimmte Orte, an die Petar gelangt, rufen bei ihm persönliche Erinnerungen wach, von denen er den Lesenden berichtet.
Marko, wie lässt sich Erinnerung im öffentlichen Raum gut umsetzen? Vor allem für Leute, die selbst keine Bezüge zum jeweiligen Ort haben?
Dinić: Es gibt viele gute Konzepte mit alternativen Stadtspaziergängen, die den Leuten Geschichten im Gehen erzählen. Ich glaube, es sollte mehr solcher Projekte geben, vor allem, was die lokale Geschichte angeht. Ich finde, dass die „große“ Geschichte im Grunde erzählt wurde, aber wir uns über die „kleinen“ Geschichten viel mehr Wissen aneignen könnten. Etwa darüber, wie die Menschen früher gelebt haben. Da geht auch mein Text über Petar stark rein. Mich interessiert die große Geschichte nicht wirklich, sondern das, was die Menschen unmittelbar bewegt. Auch alle im öffentlichen Raum aufgestellten Marker finde ich sinnvoll – ob das jetzt Gedenksteine oder Infotafeln sind. Vielleicht bin ich aber die falsche Ansprechperson für diese Frage, weil ich kein Vermittler bin, sondern Schriftsteller.
Welchen Ort assoziierst du sofort mit Nationalsozialismus? Welches Bild kommt da?
Dinić: Natürlich kommen da die kollektiv eingeschriebenen Bilder – wie das Eingangstor des Vernichtungslagers Auschwitz. Es ist ja auch gut, dass diese Bilder im kollektiven Gedächtnis eingeschrieben sind. Umso wichtiger ist es aber für mich, sich auch die lokalen Orte der NS-Geschichte zu erschließen, und die können überall sein. Gerade in Österreich und Deutschland befinden sie sich oft im eigenen Haus, und ich finde, man sollte immer ausgehend von sich selbst Interesse zeigen. Egal in welchem Kontext. Ich würde mich immer fragen, welche Geschichte von meiner Familie ausgeht oder dem Ort, an dem sie verankert ist, von ihren Wohnungen und Häusern. Ich kann mich an einen Freund erinnern, der ein großes Bauernhaus von seinem Großvater geerbt hat, der Arzt im Zweiten Weltkrieg war. Beim Herumstöbern hat er ärgste Nazi-Devotionalien gefunden. Das würde ich zum Beispiel als wichtigen Ort der Anknüpfung nehmen, auch wenn es kein „Gedenkort“ ist, sondern einfach ein Ort, an dem Nationalsozialismus ausgelebt wurde.
Könnte es auch Dinge geben, die vergessen werden sollen?
Dinić: Man sollte grundsätzlich das Erinnern niemals vom Vergessen trennen. Jorge Semprún, Buchenwald-Häftling, hat in seinem Buch „Die große Reise“ immer das Vergessen als Vorbedingung für das Erinnern hergenommen. Die beiden Prozesse sind sehr eng miteinander verknüpft. Ich würde aber nie für ein aktives Vergessen plädieren. Ich würde sogar behaupten, dass das gar nicht geht. Ein aktives Vergessen kann nur auf einer staatlichen oder institutionellen Ebene vorangetrieben werden, und dahinter steht meistens auch eine problematische Agenda, die Geschichte einseitig betrachten will. Zum Beispiel, wenn ein politischer Akteuer etwas eindeutig vergessen lassen möchte. Grundsätzlich bin ich aber auch nicht für das komplette „Auserzählen“. Ich muss nicht jedes Detail einer Gräueltat kennen, um zu verstehen, welche Mechanismen dahintergesteckt haben. Ich muss nicht im Detail wissen, wie sich die Leute in der Gaskammer gefühlt haben mögen, bevor sie gestorben sind. Das ist schon eine Übertretung. Aber da geht es ja nicht ums Vergessen, weil es gibt ja diese Aufzeichnungen, es gibt auch Literatur dazu, die man sich in einer freien Gesellschaft wie unserer auch zu Gemüte führen kann. Aber es gibt bestimmte Dinge, die muss man nicht per se wissen, damit die Erinnerungen etwas wachrütteln.
Gefällige Erinnerung und schreckliche Erkenntnis
Eine Reise ist auch in Ralph Tharayils Text „palimpsest“ Anlass, um den eigenen Erinnerungsprozess zu reflektieren: Bei einer Zugfahrt lässt die erzählende Person einen Museumsbesuch in Basel Revue passieren und berichtet dabei unter anderem von einer Installation, die Fluchtgeschichten über das Mittelmeer thematisiert. Ausgehend davon wird der der Text nun mit reflexiven Fragen nach der eigenen Positionierung zu diesen Geschehnissen erweitert. Dass einem das letztendlich die eigene Privilegiertheit in der „westlichen Welt“ vor Augen führt, ist auch etwas, worauf Tharayil und ich im Interview immer wieder zu sprechen kommen. Zum Beispiel, wenn man mal wieder vergisst, dass die Luft, die wir atmen, sehr sauber ist.
Gibt es deiner Meinung nach kollektive Erinnerungen, die keine Relevanz haben?
Tharayil: Keine Relevanz haben im Sinne von „momentan nicht gehört, erinnert, gesehen“ werden? Ja, ich denke, die gibt es ständig. Jedes Mal, wenn Erinnerungen an die Oberfläche kommen, heißt das, dass andere bis zu einem gewissen Grad Platz machen müssen. Erinnern ist verstrickt mit gesellschaftspolitischen Blessuren. Und so wird es bestimmt immer so sein, dass es Menschengruppen gibt, die nicht erinnert werden, deren Vergangenheit oder deren Auslöschung nicht erinnert wird. Es gibt kein totales Erinnern. Erinnern ist hegemonial.
Gibt es vielleicht auch Dinge, die vergessen werden sollten? Ein Beispiel: Es ist wichtig, dass wir kollektiv von den Gräueltaten in den NS-Konzentrationslagern sprechen. Andererseits will vielleicht ein selbst davon betroffener Mensch das Schreckliche auch vergessen.
Tharayil: Ich finde es schwierig, mit den Begriffen Erinnern und Vergessen pauschal umzugehen. Ich habe in meinem Text „palimpsest“ deswegen mit einer Form der Kunstkritik gespielt, die diesen Pauschalisierungen aus dem Weg geht. Es gibt ein anderes Kunstwerk, an das mich deine Frage erinnert: Der 2023 erschienene Film „Zone of Interest“ von Jonathan Glazer hat genau diese Widersprüchlichkeit zwischen Vergessen und Erinnern thematisiert. Was erinnern wir, wenn wir unser Erinnern nur so ausrichten, dass es uns Erlösung bringen soll?
Inwiefern hat der Spielfilm „Zone of Interest“ mit Vergessen zu tun?
Tharayil: Dem Film wurde von der Kritik vorgeworfen, dass er das Leid der jüdischen Menschen im KZ nicht zeige und dadurch delegitimisiere. Das finde ich interessant. Wir müssen also, um uns erinnern zu können, die physische Gewalt der Todesmaschinerie der Nazis vorführen, sonst können wir nicht an die Ermordeten erinnern. Das finde ich eine interessante Bedingung, um zu erinnern. Die Stärke des Films ist, dass wir uns mit der schrecklichen Bürgerlichkeit und dem banalen Menschsein dieser Täter auseinandersetzen müssen. Und anerkennen müssen, dass wir alle Täter sein könnten. Dass wir nicht eigenhändig töten müssen, um Täter zu werden – und das ist eine schreckliche Erkenntnis.
Erinnerst du dich eher an Gutes oder Schlechtes?
Tharayil: Es gab vor mir so viele Menschen, die das besser gesagt haben: Wir müssen nicht nur vergessen, um weiterleben zu können, sondern auch um neu erinnern zu können. Beides, Erinnern und Vergessen ist ein Akt der Imagination und der Fiktion nicht fremd. Auch das Vergessen hat eine intendierte Grammatik, eine historisierende Syntax, die mächtige Fassaden und Fronten baut. Möglicherweise können wir Erinnern und Vergessen nur so betrachten: im Abfall dieser Syntax, im Abbruch dieser Fassaden.
Woran sollte man sich öfters erinnern?
Tharayil: Dass wir jetzt noch atmen – und noch dazu einigermaßen saubere Luft. Das ist schon viel.